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Gedanken sind frei

Im dunklen Zeitalter sprachen die Menschen miteinander und tauschten dadurch ihre Gedanken aus. Die Zuhörenden erzählten das Gehörte weiter – vielleicht mit einer persönlichen Einschätzung des Gesagten. Da immer mehr Menschen ihre Kräfte bündelten und sich auf das festlegten, was sie am besten konnten, entwickelten sich auch Experten für Inhalte. Sie erschufen Schöpfungsmythen, Kulturen, Wirtschaftssysteme und in der Folge Gesellschaften mit einem gemeinsamen Selbstverständnis. Die zunehmende Verfügbarkeit von Büchern führte zu unterschiedlichen und manchmal widersprüchlichen Weltbildern. Heute können alle, die einen Zugriff auf das Internet haben, sich mit allen anderen austauschen – sofern sie zueinanderfinden. Wer hätte je erwartet, dass die so steigende Verfügbarkeit von Inhalten zu einem Problem werden könnte?

Mittlerweile befinden wir uns mitten im Kampf der Kulturen, der von Samuel Huntington bereits in den Neunzigern beschrieben wurde. Heute geht es rechthaberisch nur noch darum, wer die Hoheit über die Wahrheit hat. So wie beim kochenden Frosch-Syndrom heizen sich die Diskussionen zwischen unterschiedlichen Standpunkten immer weiter auf. Zur Befriedung sollten die wettstreitenden Parteien sich die folgenden Punkte bewusst machen.

  • Wir teilen UNSERE Gedanken
    Unser Gehirn steuert überwiegend unsere Körperfunktionen und erzeugt quasi nebenbei unser Bewusstsein. Vor dem Bewusstwerden stecken die Wahrheiten verborgen in der Latenz. Ein Heureka macht uns aufmerksam und die Gedanken werden damit zu unserer Wirklichkeit. Rauscht das Meer oder rascheln die Bäume, solange es keine Beobachtenden gibt? Kann das Meer rauschen, wenn wir den Begriff rauschen nicht kennen? Raschelt es, wenn die Bäume in Wirklichkeit knarren?
    Bereits mit der Wahl unserer Worte verlassen wir die neutrale Position des unbeteiligten Beobachters. Ob wir etwas einfach so meinen, oder vielleicht glauben, es zu kennen, oder ganz davon überzeugt sind, es zu wissen, macht für andere Menschen keinen Unterschied. In allen Fällen ist unser Gedanke in der Welt. Das gilt vor allem für abstrakte Begrifflichkeiten, die sich nur geistig begreifen lassen. Die mitgeteilten Äußerungen lassen sich nur vage in Wissen, Glauben oder Meinung unterscheiden. Nichtsdestotrotz teilen wir UNSER Denken – auch jetzt.
  • Die Arroganz der Blasen
    Neue Inhalte setzen auf unseren bestehenden Vorstellungen auf. Ohne das bereits latent verfügbare Neue in unseren mentalen Modellen fehlen Anknüpfungspunkte und es wird sich kein Ach so Die oft bemängelten Filter- und Informationsblasen tragen wesentlich zur Vorbereitung neuer Einsichten bei. Der Echokammereffekt, der dadurch entsteht, dass die immer gleichen Daten zu einem bestätigenden Nachhall anschwellen, erzeugen in unserem Denken einen Resonanzraum, der mit der Zeit unsere Aufmerksamkeit auf die bekannten und irgendwann als wahr angenommenen Inhalte ausrichtet. Diese Blasen reichen von den Verschwörungstheorien bis hin zu den wissenschaftlichen Disziplinen. Wir lassen Anerkanntes leichter gelten, bewerten es höher und blenden Befremdliches aus. Schlussendlich werden Andersdenkende zur weiteren Untermauerung der eigenen Sicht diffamiert – als Unwissende, Falschgläubige und Spinner. Wenn dann noch Demagogen diese Mechanismen ausnutzen, dann befinden wir uns mitten in der Politik der gesinnungslosen Versprechungen. Wenn Anhänger einer Anschauung Andersdenkende arrogant verunglimpfen und ausgrenzen, dann wird es schwer, einen Diskurs zu führen – Vorsicht vor Dogmatikern, Demagogen und Scharfmachenden aller Art.
  • Für eine Durchlässigkeit der Blasen
    Damit sich die Ränder der Blasen nicht verfestigen, brauchen wir wechselseitig durchlässige Grenzen, die andere Sichtweisen zulassen. In der Vergangenheit hallten die Erkenntnisse im näheren Umfeld wider – in der Familie, bei der Arbeit, im Dorf oder in der Region. Die Massenmedien und sozialen Netze ermöglichen die Vernetzung von Gleichgesinnten auf der ganzen Welt. Innerhalb der Blase finden sich so viele Bestätigungen, dass eine Erkenntnis jetzt schnell zu einer globalen „Wahrheit“ wird, die das Gefühl, verstärkt, im Recht zu sein.
    Damit die Konflikte, die sich aus dieser Selbstbezogenheit ergeben, im Vorhinein vermieden oder nachträglich aufgelöst werden können, brauchen wir eine Durchlässigkeit der Blasengrenzen. Zu diesem Zweck sollten zuallererst die Erkenntnisse anderer nicht als unqualifizierte, abergläubische oder unbewiesene Aussagen verleumdet werden. Die Durchlässigkeit steigt durch direkten Austausch der Standpunkte über die Grenzen der mentalen Modelle hinweg – mehr neutrale, blasenübergreifende Diskussionsgelegenheiten als den Einsatz von Echoverstärkern (z.B. Fake-News, Verunglimpfung; Panikmache); mehr Auseinandersetzung mit Widersprüchen als bestätigendes Schulterklopfen; mehr Einbindung Andersdenkender als Ausgrenzung. Der Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 ist ein gutes Beispiel, dass undurchlässige Grenzen nicht überlebensfähig sind – Offenheit ist eine wichtige Voraussetzung für die nächste Stufe der Viabilität.
  • Denken n.0
    Mit der Auflösung der geographischen und zeitlichen Distanzen, wenn alles nur noch einen Klick entfernt ist, brauchen wir einen angemessenen Umgang mit den Echokammern und der gleichzeitig unüberschaubaren Verfügbarkeit von mentalen Modellen – ein Denken n.0.
    – Unterschiedliche und widersprechende Denkwelten sind auf der gleichen Augenhöhe.
    – „Friedliche“ Diskurse, die auf einer klaren Problem-/Zielbestimmung, der Trennung von Person und Thema, der Berücksichtigung der Botschaftsaspekte, und einem entsprechenden Verhaltenskodex aufbauen (z.B. schlüssiger Ablauf, keine Killerphrasen, aktives Zuhören, Kurzfassen, Aussagen würdigen), sind unerlässlich.
    – Das Mindset sollte sich seiner kognitiven Verzerrungen und sonstigen Denkfallen bewusst sein.
    – Verbesserte Computer- und Informationskompetenzen sind erforderlich – z.B. ein angemessener Umgang mit den verfügbaren Kanälen (wie E-Mail, Foren, Chats usw.), einen an die Bedarfe angepassten Umgang mit Daten (z.B. bei der Formulierung, Suche, Bewertung, Verarbeitung und Weitergabe), eine Verstärkung der eigenen Aufmerksamkeit durch Achtsamkeitstraining sowie einen bewusst aufgeschlossenen und respektvollen Austausch von Ideen.
    Bisher hat die fehlende Regulierung des Internets zum Ausprobieren der Möglichkeiten und zu der aktuellen VUKAWelt geführt. Dadurch gehen wir mit wehenden Fahnen in der Informationsflut unter. Alt und Jung benötigen Einweisungen in ein Denken n.0.

Fazit: Es wird immer auffälliger, das sich Richtig und Falsch nicht mehr unterscheiden lässt. Es liegt daran, dass alles in Bewegung ist, wie es Heraklit formulierte (Panta rhei – Alles fließt). Die Trennung von Aussagen in Wissen, Glauben und Meinung passt nicht mehr. Wissen basiert auf dem Glauben an bestimmte Fakten, Glauben beinhaltet die Kenntnis von etwas und die Meinung ist ohne Wissen und Überzeugung schwer vorstellbar. Die Blasenbildung kommt vor allem von unserer Unfähigkeit, mit der Menge an Daten umzugehen. Die Durchlässigkeit der Blasen ist die Voraussetzung für einen „friedvollen“ Umgang miteinander. Damit das möglich wird, müssen wir das Denken n.0 lernen, das alles Erdenkliche als ebenbürtig ansieht, die Gelegenheit für einen fruchtbaren Diskurs bietet, uns unsere Bias bewusst macht und die erforderlichen Fähigkeiten für den Umgang mit der Infoflut vermittelt. Technische Lösungen erhöhen das Rauschen durch noch mehr schwer zu verstehende Daten. Die Tendenz Andersdenkende zu diffamieren, indem sie als unqualifiziert, abergläubisch und spekulativ bezeichnet werden, passt nicht mehr zur aktuellen Lage. Alle Erkenntnisse entstehen im Rahmen bestimmter Denkmodelle und beeinflussen durch politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, technologische, rechtliche und ökologische Gegebenheiten. Und sie gelten nur für den abgesteckten Kontext, was es erschwert, darüber zu debattieren. Wir entwickeln uns weiter und finden Lösungen, solange wir Meinungen frei äußern und diskutieren können. Es muss gelten: Gedanken sind frei.

Kultur – die wesentliche Informationsblase

Der Blick auf Kulturen erfolgt stets aus dem individuellen Blickwinkel der eigenen Herkunft. Zur Beschreibung werden Wörter, Assoziationen und Überzeugungen genutzt, die unbewusst durch die Kultur bestimmt sind, in der man aufgewachsen ist. Das beginnt mit der gefilterten Aufmerksamkeit, die nur die Gesichtspunkte bemerkt, an die sich die Betrachter gewöhnt haben – stehen Einzelne oder Gruppen im Mittelpunkt? Das geht weiter mit dem Weltbild, das Erklärungsmuster für die beobachteten Sachverhalte liefert, z.B. religiöse oder weltliche Überzeugungen. Für die Beschreibung stehen die Worte zur Verfügung, die in dem beobachtenden Kulturkreis üblich sind, z.B. die Lesart von Begriffen wie Freiheit, Arbeit, Staat. Folgt dann noch eine Handlung, so orientiert sich diese an den Möglichkeiten der eigenen Gesellschaft, z.B. Gefängnis- vs. Prügelstrafen. Schon Ludwig Wittgenstein hat gesagt: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Damit wird unsere persönliche Kultur zur wesentlichen Informationsblase.

Die folgenden Beispiele sind kulturelle Dimensionen, die diese Informationsblase zusammenhalten.

  • Sozialisation
    Ein Schwerpunkt des Hineinwachsens in die Welt ist die soziale Ausrichtung auf sich selbst versus auf die eigene Gruppe. Die Betonung von Unabhängigkeit und der eigenen Bedürfnisse macht dabei die individualistische Orientierung aus. Steht hingegen die Gruppe im Mittelpunkt, dann bestimmt die Zugehörigkeit und die Unterordnung der eigenen Interessen unter die der Gruppe die eigene Identität.
    Treffen unterschiedliche Sichtweisen aufeinander, dann konzentrieren sich die Beteiligten auf ihre erlernten Normen. Während beispielsweise die Kollektivisten den Wunsch nach persönlichem Freiraum nicht erkennen, entgeht den Individualisten das Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit. Dieser blinde Fleck bleibt erhalten durch einen stetigen Austausch von bereits bekannten Ideen. Die Sozialisation stabilisiert die gegen Andersartigkeit abgeschottete Informationsblase und führt zu den bekannten Ausgrenzungen – z.B. Xenophobie, Nationalismus, Rassismus.
  • Hierarchie
    Das Verhältnis der Menschen zueinander wird wesentlich bestimmt durch das Verständnis von der Stellung, dem Einfluss und den Zuständigkeiten. Hierarchische Gesellschaften akzeptieren schnell den Machtanspruch und die Entscheidungen von Übergeordneten. Gleichzeitig bietet diese Sicht eine Entlastung von Verantwortung, da einem die hochrangigeren Personen naturgemäß die Verantwortung abnehmen. Egalitäre Gesellschaften, die eine flache Hierarchie mit gleichrangigen Gruppenmitgliedern praktizieren, stehen Machtansprüchen skeptisch gegenüber. Da sie sich auf Augenhöhe begegnen, verstehen sie nicht, dass sie ungefragt vor vollendete Tatsachen gestellt werden und dann noch engagiert mitmachen sollen. Das Verständnis und die Akzeptanz einer Schichtung der Gesellschaft und die damit verbundenen Rollen können schnell zu Spannungen zwischen unterschiedlichen Kulturen führen – z.B. fehlender oder zu viel Respekt, geforderte Entscheidungsfreude.
  • Zeit
    Unterschiede in der Kultur werden oft an dem Umgang mit Zeit festgemacht. Dies beginnt mit der Einteilung von Zeit in feste Abschnitte oder fließende Übergänge. Mit der Einführung von immer genaueren Uhren konnte der Tag immer feiner in Zeitabschnitte aufgeteilt werden. Trotzdem unterscheiden sich Kulturen in dem Umgang mit Terminen – z.B. Pünktlichkeit, Dauer, Termintreue. Dazu gehört auch die gleichzeitige Nutzung der Zeit für eine oder mehrere Aufgaben – z.B. Multitasking, Singletasking. Stark verinnerlicht ist die Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So legen vergangenheitsorientierte Menschen Wert auf Erfahrung und eingeführte Vorgehensweisen. Im Hier und Jetzt geht es um kurzfristige, schnelle Ergebnisse. Zukunftsorientierte interessieren sich nicht für Bestehendes und Quick-wins, sondern für langfristige, nachhaltige Ergebnisse. Man kann den Blick auf die Zeit bei sich und anderen einfach mit den folgenden Fragen ermitteln: Wo sehen Sie die Zukunft? Wo zeigen Sie hin, wenn Sie auf die Vergangenheit hindeuten wollen? In den meisten Teilen der Welt hat es sich durchgesetzt, dass wir die Zukunft vor uns finden und dass wir nach hinten in die Vergangenheit zeigen. Es gibt jedoch tatsächlich Völker, bei denen es genau umgekehrt ist. Die Vergangenheit findet sich sichtbar vor ihnen und die Zukunft liegt unsichtbar in ihrem Rücken. Das kulturbedingte Zeitgefühl führt zu gefilterten Berichten, die andere Zeitwahrnehmungen ausblenden.

Fazit: An den wenigen Beispielen sollte klar werden, dass wir alle in einer Informationsblase schweben, die uns den Blick auf andere Bereiche verzerrt oder zumindest belastet. Unsere Sozialisation hat uns zu Persönlichkeiten werden lassen, die von der Umwelt geprägt sind. Die Verantwortlichkeit wird dabei bestimmt von unserem Hierarchieverständnis. Der Umgang mit Zeit bestimmt die Blickrichtung der Informationsblase. Sprechen wir also heute von der Informationsblase und alternativen Fakten, so ist dies nicht unbedingt ein Thema von Populisten, sondern ein notwendiges Verständnis von kulturellen Unterschieden. Lange vor der politischen Meinungsmache von Lobbyisten sind wir bereits gefangen in unserer kulturellen Informationsblase. Wir überwinden die Begrenzung nur, wenn wir uns bemühen aus ihr auszubrechen sowie uns offen und tolerant gegenüber Unbekanntem und Befremdlichen verhalten. Die Prägung durch die Kultur ist die wesentliche Informationsblase, die uns beschränkt.