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Auf der Suche nach dem richtigen Rhythmus

Das Wort Rhythmus leitet sich aus dem griechischen Rhythmus, »Zeitmaß, Takt« ab und beschreibt eine zeitliche Aufteilung in von Zeit zu Zeit auftretende, gleiche oder veränderliche Aktivitäten. Rhythmische Schwankungen von Messgrößen werden zur Einschätzung des Zustands von Systemen aller Art genutzt, wie z. B. die Fieberkurve des menschlichen Organismus, die elektrischen Impulse des Gehirns, der Herzrhythmus und sogar die Anzahl von Krankmeldungen, die Häufigkeit von Fehlzeiten im Unternehmen oder die lokale Häufung von Verbrechen. Es besteht die Hoffnung, dass durch die frühzeitige Erkennung und richtige Auslegung dieser Schwankungen zuverlässige Vorhersagen bezüglich der nahen Zukunft möglich werden. Im Geschäftsleben kann man beobachten, wie das Pendel zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung hin und herschwingt. Die Kultur ist durch immer neue, aber auch häufig wiederkehrende Trends angetrieben. So wie es viele Bereiche, die sich gegenseitig beeinflussend existieren, gibt es in den Bereichen eine Unmenge an Parametern, die schwingen. In diesem Zusammenhang wird die Suche nach dem richtigen Rhythmus eine komplexe Fragestellung.

Da gleichzeitig viele Schwingungen stattfinden, hoffen wir darauf, dass wir einfache und gleichlaufende Rhythmen finden. Vielleicht lernen wir aber gerade, dass der Gleichschritt der Impulse ein Ausdruck von ungesunder Verfestigung und fehlender Energie ist. Ein gutes Beispiel ist der Verkehr, der durch immer mehr Fahrer, die sich gleich verhalten, immer mehr ins Stocken kommt. Die Lösung findet sich in der systemischen Betrachtungsweise. Machen wir uns mal ein paar Bereiche mit periodischen Schwankungen bewusst.

  • Rhythmen der Natur
    In der Natur folgt alles ohne Ausnahme immer wieder auftretenden Veränderungen. Das gilt für das Werden und Vergehen eines Lebens und reicht bis zu den Pendelbewegungen in den einzelnen Phasen eines Lebenslaufs. So teilen sich biologische Zellen in festen Abständen und erneuern damit ihr Gefüge, bis es schließlich vergeht. Am Puls, der Atemfrequenz oder an den elektrischen Aktivitäten im Gehirn erkennen wir den Gesundheitszustand von Lebewesen – Gleichförmigkeit ist ein Hinweis auf Unannehmlichkeiten. In der Umwelt sind es die Gezeiten oder El Niño, die die Jahreszeiten die Gaia am Laufen halten – extreme Ausschläge führen zu Dürren oder zu starken Regenfällen. Die Erde dreht sich einmal am Tag um ihre eigene Achse und braucht ein Jahr um die Sonne herum – durch den Neigungswinkel der Erdachse führen diese Zyklen zu den Jahreszeiten und gemeinsam mit dem Mond zu den Gezeiten. Was wir uns dabei selten bewusst machen, ist die Tatsache, dass die Veränderungen der unzähligen Bausteine der Natur schwer erkennbaren Schwingungen folgen.
    Da alle Bestandteile einer eigenen Taktzahl folgen, fallen uns nur übergreifende Ausschläge auf. Deshalb suchen wir unentwegt nach natürlichen Mustern, die uns bei unseren Aktivitäten die Richtung weisen – so ähnlich wie bei den Schwankungen, die über lange Zeit erkannt und in sprichwörtliche Regeln gepackt wurden – z. B. Alles neu macht der Mai; Abendrot, Schönwetterbot‘ – Morgenrot, schlecht Wetter droht.
  • Rhythmus der Kultur
    Unsere Lebensstile bestehen aus unseren Identitäten und Überzeugungen, den Sprachen und den Handlungen, den Geschichten und den Erfahrungen. Sie erscheinen in den sichtbaren Verhaltensweisen, Ritualen, Erzählungen und Dingen. Die sich dahinter verbergenden Werte und Grundannahmen sind nur mittelbar ableitbar. Auch die kulturellen Aspekte haben einen eigenen Zyklus: der Zeitgeist folgt sich ändernden Rahmenbedingungen in den Wissenschaften und der populären Kunst; die Massenmedien haben ihre Veröffentlichungsrhythmen; Sportveranstaltungen haben Saisons.
    Der Rhythmus wird angetrieben durch die Wechsel der Generationen, der alles anders macht und nach ein paar Veränderungen auch wieder etwas Altes aufnimmt – wenn die Jungen Vinyl und Schellack neu entdecken; trotz aller Digitalisierung das Buchformat mit alten Drucktechniken und haptisch attraktiven Büchern weiterlebt. Ausgelöst werden diese Trends von Störungen, die aus dem scheinbaren Nichts auftauchen, den Tipping Point überwinden und zu einer kulturellen Welle werden.
  • Rhythmus der Wirtschaft
    Die Wirtschaft erzeugt nicht nur die allgemeinen Auf- und Abschwünge von Märkten und Geschäften, sondern treibt diese auch an. Die wirtschaftliche Komplexität ergibt sich aus sich beschleunigenden Wechseln von Technologien, immer schneller erzeugten neuen Gütern und Objekten sowie aus fähigeren Kundentypen, die zügiger unterwegs sind, als die Unternehmen. Denken wir an die Kondratjew-Zyklen, deren lange Wellen durch bestimmte Maschinen und Leistungen geprägt sind und alle sechzig Jahre ein neues Paradigma beschreiben, das bestehende Geschäftsmodelle erschüttert – das Zeitalter der Dampfmaschine und der Baumwolle (ca. 1771), das Zeitalter der Eisenbahn und des Stahls (ca. 1829), das Zeitalter der Elektrizität und der Chemie (ca. 1875), das Zeitalter von Erdöl, Auto und Massenproduktion (ca. 1908) sowie das Zeitalter der Information und Telekommunikation (ca. 1971). Die digitale Transformation ist der bisherige Höhepunkt der aktuellen Welle, die zu massiven Jobverlusten bei einfachen Tätigkeiten führt.
    Der Rhythmus der Wirtschaft ist die Folge der unzähligen Schwankungen der Führungsstile, Zusammenarbeitsmodelle, der Herstellungs- und Softwaretechnologien – d. h., die Wellen verstecken sich in einem breiten Band aus weißem Rauschen. Das erklärt die fortwährenden Versuche durch immer mehr Verarbeitung von Daten (Big Data), die Muster herauszufiltern, die eine bessere Vorhersage der Märkte ermöglichen würden. Der Vorteil liegt in der Chance, umfassende Datenmengen zu berücksichtigen. Der Nachteil steckt in den Auswertemodellen, die, trotz der enormen Computerleistung, den Rahmen für die Ergebnisse setzen. Wir sollten nicht vergessen, dass alte Ansätze, wie das Werfen einer Münze oder der Blick in die Kristallkugel, bereits eine 50/50-Chance haben.
  • Rhythmus des persönlichen Ausdrucks
    Selbst wir erleben solche Wellen. Wir präsentieren beispielsweise im Rahmen eines Vortrags unsere Botschaften mithilfe unserer Körperhaltung, Gestik, Mimik und Intonation. Die Art und Weise wie man dasteht und den Raum beim Vortrag nutzt, der Einsatz der Arme und Hände, die flüchtigen Gesichtsausdrücke und die Lautstärke, Höhe und Betonung der gesprochenen Worte erzeugen neben den inhaltlichen Aussagen zusätzlichen Ausdruck und führen zusammen zu einer positiven oder negativen Bewertung. Fehlt dem Ausdruck der Rhythmus, d. h. steht man unbewegt an der gleichen Stelle und leiert leidenschaftslos vor sich hin, verliert man die Aufmerksamkeit des Publikums und erzielt nicht die gewünschte Wirkung.
    Es ist möglich, durch Übung und bewusste Steuerung des Ausdrucks, den eigenen Präsentationsstil zu verbessern. Dann schafft man es, die verschiedenen Rhythmen zu erzeugen, und damit die eigene Botschaft zu verstärken. Dies schafft Akzeptanz, vor allem, wenn man das Publikum dabei immer wieder zum Mitschwingen bringt.

Diese Beispiele sind eine einfache Sammlung von Aspekten, die auf und ab schwingen und die wir verstehen und vorhersehen wollen. Wichtig ist es sich bewusst zu machen, dass, egal wo man hinschaut, die Wellenbewegungen der einzelnen Aspekte völlig losgelöst voneinander stattfinden. Allerdings scheint das Ganze, das daraus entsteht, umso gesünder zu sein, desto unterschiedlicher die einzelnen Rhythmen sind. Straff organisierte Gruppen verlieren ihre Agilität durch starre Befehlsketten – wie in Fukushima, in den ehemaligen Ostblockstaaten und demnächst in den USA. Der Versuch alles in Gleichschritt zu bringen, ist eher kontraproduktiv, da alle Beispiele zeigen, dass nur das ‚chaotische‘ Schwingen der Elemente, ein viables System erzeugt.

Fazit: Man sieht in der Natur, der Kultur, der Wirtschaft und sogar im persönlichen Ausdruck, dass sich Wellen überlagern. Damit sind althergebrachte Organisationsstrukturen des Industriezeitalters, die auf die Gleichschaltung aller Funktionen ausgelegt waren, heute nicht mehr zeitgemäß. Agilität erfordert Offenheit, Commitment, Engagement und das dazugehörige Y-Menschenbild. Der richtige Rhythmus ist also nicht EINE gleichmäßige Schwingung der Bestandteile, sondern das lebendige, unvorhersehbare Durcheinander von unzähligen Schwingungen.

Kultur – die wesentliche Informationsblase

Der Blick auf Kulturen erfolgt stets aus dem individuellen Blickwinkel der eigenen Herkunft. Zur Beschreibung werden Wörter, Assoziationen und Überzeugungen genutzt, die unbewusst durch die Kultur bestimmt sind, in der man aufgewachsen ist. Das beginnt mit der gefilterten Aufmerksamkeit, die nur die Gesichtspunkte bemerkt, an die sich die Betrachter gewöhnt haben – stehen Einzelne oder Gruppen im Mittelpunkt? Das geht weiter mit dem Weltbild, das Erklärungsmuster für die beobachteten Sachverhalte liefert, z.B. religiöse oder weltliche Überzeugungen. Für die Beschreibung stehen die Worte zur Verfügung, die in dem beobachtenden Kulturkreis üblich sind, z.B. die Lesart von Begriffen wie Freiheit, Arbeit, Staat. Folgt dann noch eine Handlung, so orientiert sich diese an den Möglichkeiten der eigenen Gesellschaft, z.B. Gefängnis- vs. Prügelstrafen. Schon Ludwig Wittgenstein hat gesagt: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Damit wird unsere persönliche Kultur zur wesentlichen Informationsblase.

Die folgenden Beispiele sind kulturelle Dimensionen, die diese Informationsblase zusammenhalten.

  • Sozialisation
    Ein Schwerpunkt des Hineinwachsens in die Welt ist die soziale Ausrichtung auf sich selbst versus auf die eigene Gruppe. Die Betonung von Unabhängigkeit und der eigenen Bedürfnisse macht dabei die individualistische Orientierung aus. Steht hingegen die Gruppe im Mittelpunkt, dann bestimmt die Zugehörigkeit und die Unterordnung der eigenen Interessen unter die der Gruppe die eigene Identität.
    Treffen unterschiedliche Sichtweisen aufeinander, dann konzentrieren sich die Beteiligten auf ihre erlernten Normen. Während beispielsweise die Kollektivisten den Wunsch nach persönlichem Freiraum nicht erkennen, entgeht den Individualisten das Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit. Dieser blinde Fleck bleibt erhalten durch einen stetigen Austausch von bereits bekannten Ideen. Die Sozialisation stabilisiert die gegen Andersartigkeit abgeschottete Informationsblase und führt zu den bekannten Ausgrenzungen – z.B. Xenophobie, Nationalismus, Rassismus.
  • Hierarchie
    Das Verhältnis der Menschen zueinander wird wesentlich bestimmt durch das Verständnis von der Stellung, dem Einfluss und den Zuständigkeiten. Hierarchische Gesellschaften akzeptieren schnell den Machtanspruch und die Entscheidungen von Übergeordneten. Gleichzeitig bietet diese Sicht eine Entlastung von Verantwortung, da einem die hochrangigeren Personen naturgemäß die Verantwortung abnehmen. Egalitäre Gesellschaften, die eine flache Hierarchie mit gleichrangigen Gruppenmitgliedern praktizieren, stehen Machtansprüchen skeptisch gegenüber. Da sie sich auf Augenhöhe begegnen, verstehen sie nicht, dass sie ungefragt vor vollendete Tatsachen gestellt werden und dann noch engagiert mitmachen sollen. Das Verständnis und die Akzeptanz einer Schichtung der Gesellschaft und die damit verbundenen Rollen können schnell zu Spannungen zwischen unterschiedlichen Kulturen führen – z.B. fehlender oder zu viel Respekt, geforderte Entscheidungsfreude.
  • Zeit
    Unterschiede in der Kultur werden oft an dem Umgang mit Zeit festgemacht. Dies beginnt mit der Einteilung von Zeit in feste Abschnitte oder fließende Übergänge. Mit der Einführung von immer genaueren Uhren konnte der Tag immer feiner in Zeitabschnitte aufgeteilt werden. Trotzdem unterscheiden sich Kulturen in dem Umgang mit Terminen – z.B. Pünktlichkeit, Dauer, Termintreue. Dazu gehört auch die gleichzeitige Nutzung der Zeit für eine oder mehrere Aufgaben – z.B. Multitasking, Singletasking. Stark verinnerlicht ist die Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So legen vergangenheitsorientierte Menschen Wert auf Erfahrung und eingeführte Vorgehensweisen. Im Hier und Jetzt geht es um kurzfristige, schnelle Ergebnisse. Zukunftsorientierte interessieren sich nicht für Bestehendes und Quick-wins, sondern für langfristige, nachhaltige Ergebnisse. Man kann den Blick auf die Zeit bei sich und anderen einfach mit den folgenden Fragen ermitteln: Wo sehen Sie die Zukunft? Wo zeigen Sie hin, wenn Sie auf die Vergangenheit hindeuten wollen? In den meisten Teilen der Welt hat es sich durchgesetzt, dass wir die Zukunft vor uns finden und dass wir nach hinten in die Vergangenheit zeigen. Es gibt jedoch tatsächlich Völker, bei denen es genau umgekehrt ist. Die Vergangenheit findet sich sichtbar vor ihnen und die Zukunft liegt unsichtbar in ihrem Rücken. Das kulturbedingte Zeitgefühl führt zu gefilterten Berichten, die andere Zeitwahrnehmungen ausblenden.

Fazit: An den wenigen Beispielen sollte klar werden, dass wir alle in einer Informationsblase schweben, die uns den Blick auf andere Bereiche verzerrt oder zumindest belastet. Unsere Sozialisation hat uns zu Persönlichkeiten werden lassen, die von der Umwelt geprägt sind. Die Verantwortlichkeit wird dabei bestimmt von unserem Hierarchieverständnis. Der Umgang mit Zeit bestimmt die Blickrichtung der Informationsblase. Sprechen wir also heute von der Informationsblase und alternativen Fakten, so ist dies nicht unbedingt ein Thema von Populisten, sondern ein notwendiges Verständnis von kulturellen Unterschieden. Lange vor der politischen Meinungsmache von Lobbyisten sind wir bereits gefangen in unserer kulturellen Informationsblase. Wir überwinden die Begrenzung nur, wenn wir uns bemühen aus ihr auszubrechen sowie uns offen und tolerant gegenüber Unbekanntem und Befremdlichen verhalten. Die Prägung durch die Kultur ist die wesentliche Informationsblase, die uns beschränkt.