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Die Flut – die ideale Metapher für zu viel zu viel

Wir rasen unentwegt mit über 100.000 km/h um die Sonne. Gleichzeitig dreht sich die Erde mit über 1600 km/h um ihre eigene Achse – und wir spüren nichts. Allerdings erzeugen die Erdrotation sowie die Konstellation von Sonne und Mond regelmäßig Störungen, die die Weltmeere in Schwung versetzen. Wer die Küsten der Weltmeere besucht hat, konnte die Auswirkungen der Welle, die um die Erde schwappt, beobachten. Der Tidenhub, die Stärke von Ebbe und Flut, wird dabei zusätzlich von der Wetterlage beeinflusst. Der Wasserstand schwankt je nach Region bis zu 15 Meter. Und dann gibt es noch die große Flut – eine überlieferte Geschichte, die in verschiedenen Kulturkreisen erzählt wird. Die Flut setzt dabei den Startpunkt für eine neue Zeit, nachdem alles Unerwünschte überschwemmt wird und in den Wassermassen verschwunden ist. Die Flut ist durch ihre Überfülle zu einem Synonym von viel zu viel geworden.

Bei näherer Betrachtung ergeben sich interessante Gesichtspunkte.

  • Begriff
    Die Erde ist mit 71% Wasser bedeckt. Diese 1,4 Milliarden Kubikkilometer von Wasser werden durch die Konstellation von Sonne und Mond in Bewegung gehalten. Die Gezeiten bestehen aus dem fallenden Wasser, der Ebbe, und dem steigenden Wasser, der Flut. Sie lösen sich innerhalb von 25 Stunden zweimal ab. Zusätzlich wird der Begriff Flut allgemein genutzt für große Wassermassen und für Fluten aller Art, z.B. Informationsflut, Bilderflut, Briefflut, Antragsflut, Warenflut, Reizüberflutung. Im übertragenen Sinn steht der Begriff für viel zu viel.
  • Auslöser
    Fluten entstehen durch Konstellationen der Sonne und des Mondes, Naturkatastrophen und menschgemachten Einflüssen. Vulkanausbrüche, Erdbeben, Erdrutsche oder Starkregen führen an unterschiedlichsten Orten zu sintflutartigen Wassermassen. Im Zeitalter des Anthropozäns erzeugt die Menschheit mit der Versiegelung von Böden durch Städte- und Straßenbau, Fabriken und industrielle Landwirtschaft Schäden in der Natur. So entsteht ein Ungleichgewicht, das zu einem anhaltenden Wandel des Klimas führt, aufgrund der stetigen Erwärmung der Erde und der Verschiebung von Klimazonen. Die Abschmelzung des Eises an den Polkappen und den großen Gletscherregionen führen zu einem steigenden Meeresspiegel, der Megacitys, wie beispielsweise Kalkutta, Mumbai und Guangzhou sowie Miami, New York und Tokio bedroht. Verallgemeinert entstehen Fluten durch viel zu viel.
  • Stärke
    Das Ausmaß einer Flut wird durch den Pegelstand ermittelt. Da die Höhe des Pegels an sich nichts aussagt, ist ein Richtwert, ein Referenzpunkt erforderlich. Beim Wasser unterscheiden wir mittleren Wasserstand, mittleres Niedrigwasser und mittleres Hochwasser. Das höchste Hochwasser ist der größte je gemessene Wert. Daneben werden historische Überflutungsbereiche gekennzeichnet. Bautätigkeit in diesen Bereichen ist riskant. Nach langen Perioden ohne Überschwemmung hält dies die Menschen jedoch nicht davon ab, in diesen Gebieten erneut Gebäude und Straßen zu bauen. Ein abschreckendes Beispiel ist die Region von Fukushima, wo Häuser in bekannten Überschwemmungsgebieten gebaut und prompt wieder überflutet wurden. Dammanlagen schützen die gefährdeten Gebiete, solange sie hoch genug sind. Allerdings steigt der Meeresspiegel durch den Klimawandel und erfordert immer umfangreichere Dammanlagen – bis sich das Wasser nicht mehr abhalten lässt. Der Lebensraum von über 250 Millionen Menschen, vor allem im Osten Asiens sowie am Golf von Mexiko und der Atlantikküste, ist in absehbarer Zeit von Überflutungen bedroht. Für die anderen Fluten (siehe oben) müssen Pegel noch festgelegt werden, um von einer Flut sprechen zu können. Im übertragenen Sinn braucht es auch Messgrößen für das viel zu viel.
  • Folgen
    Die Auswirkungen einer Flut drehen sich nicht nur um die eigentliche Überflutung, sondern auch um die langfristigen Nachwirkungen. Während frühere Fluten durch Hörensagen überliefert wurden, sehen wir heute Videos, die fast in Echtzeit das Geschehen zeigen. Im Jahr 2004 bebte es im Indischen Ozean, was einen Tsunami auslöste, der mehr als 220 Tsd. Menschenleben forderte und in kürzester Zeit in den Nachrichten und im Internet zu sehen war. In der Folge wurden die Trinkwasserquellen verunreinigt, 1,7 Millionen Menschen obdachlos, fruchtbarer Ackerboden weggeschwemmt und ganze Landstriche unbewohnbar. Innerhalb eines Jahres wurden geschätzte 13,8 Mrd. Dollar zum Wiederaufbau der betroffenen Regionen bereitgestellt. Heute überwachen 300 vollautomatische landgestützte Messstationen und bilden so ein Frühwarnsystem. Fluten bedrohen darüber hinaus alle Arten technischer Infrastruktur. In Fukushima führten unerwartet starke Wellen zum Super-GAU und zu bis heute radioaktiv verseuchten Landschaften in der Region Sendai. In Ausnahmefällen schaffen Überschwemmungen auch Lebensraum. Die jährlichen Überschwemmungen des Nils lieferten den fruchtbaren Boden und die benötigte Feuchtigkeit für diese frühe Hochkultur.
    Im allgemeinen Sprachgebrauch von viel zu viel erzeugen Fluten Überforderung und Stress bei den Betroffenen.
  • Bedeutung
    Die Flut hat vor allem die Bedeutung des viel zu viel. Anwendbar ist diese Metapher, wenn etwas passiert, getan oder entwickelt wird, sich annähert, ansteigt oder wandelt. Es überspült, wann immer das Gleiche sich aufschaukelt – z.B. Telefone unentwegt klingeln, immer mehr E-Mails eingehen; immer häufiger Entscheidungen angefordert werden; sich eine Botschaft viral im Internet verbreitet; eine steigende Anzahl von Kunden den Laden stürmt; die Auslastung der Rechnernetze explosionsartig hochgeht; kleine Verbesserungen ein Gesamtsystem infrage stellen. Das Bild einer Flut wird vor allem in unterschiedlichen Bereichen der Kommunikation genutzt – die Datenflut, die Erkenntnisse unter sich begräbt; die Flut von Informierungsbedarfen, die klare Botschaften verwischen; die Nachfrageflut, die zu einer großen Menge an Angeboten führt; die Problemflut, in der die Fragmentierung der Interessen die Leidtragenden ertrinken lässt. In den meisten Fällen machen Fluten Angst. Aus diesem Grund sollte der Begriff mit Vorteilen einhergehen: viele Anfragen sind ein Kennzeichen von Interesse; massenweise Entscheidungen sind ein Zeichen von Momentum; gewaltige Datenmengen sind eine Grundlage für geschickte Auswertungen; vielschichtige Problem werden mit einem strukturierten Ansatz beherrscht. Es gilt landläufig, viel zu viel ist in den meisten Fällen besser als zu wenig.

Fazit: Die Flut ist ein bedrohliches Bild, das durch sein viel zu viel Ängste weckt. Der Begriff findet sich seit Jahrtausenden als virale Meme in unterschiedlichsten Kulturen. Die meisten Auslöser führen zu einer starken Gefahr, auf die wir nur reagieren können. Am Ende entstehen durch eine Flut große Schäden. Mithilfe entsprechender Vor- und Nachbereitung können diese so weit wie möglich gemindert und schließlich überwunden werden. Das Gleiche gilt im übertragenen Sinn für die abstrakten Fluten der Wahrnehmung, des Denkens, der Kommunikation und der Handlungen, die zumeist zu Angst und Disstress bei den Betroffenen führen. Das macht die Flut zu einer idealen Metapher für viel zu viel.

Die Sitzrichtung in der Eisenbahn – die ideale Metapher für zeitliche Horizonte

Vergessen wir für die nächsten Minuten, dass wir das Phänomen der Zeit noch nicht verstehen, obwohl wir sie immer feiner messen – eine Atomuhr bietet eine Sekunde Abweichung in 30 Millionen Jahren. Zusätzlich kann es zu einer Dehnung der Zeit kommen, sobald man sich vom Erdmittelpunkt entfernt – zwei Atomuhren, die vor 4,5 Milliarden Jahren synchron gestartet wären, eine auf Meereshöhe und eine 9000 Meter hoch, hätten eine Zeitdifferenz von 39 Stunden, d.h. am Meer wäre die Zeit schneller vergangen. Im Alltag werden diese Unterschiede nicht bemerkt. Wir teilen die Zeit grob in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Blick aus einem fahrenden Zug bietet ein gutes Beispiel für diese Zeiträume.

Im Zug gibt die Platzwahl die Perspektive vor, in und entgegen der Fahrtrichtung sowie gerade hinaus.

  • Die Zukunft
    Der Blick auf kommende Zeiten baut auf eine gründliche Sammlung von Daten, aus denen wir durch Annahmen und unsere Anschauungen Szenarien entwickeln. Da in der westlichen Kultur die Zukunft vor uns liegt, fühlt es sich so an, als sitze man in einem fahrenden Zug und blicke in Fahrtrichtung. Sie sehen entfernte Orte vor sich, auf die sie sich zubewegen und an denen sie im nächsten Moment vorbeifahren. Jedoch ist nicht alles sichtbar – weder alle Elemente oder Feinheiten noch die künftigen Zustände, die sich erst später ereignen. Wir antizipieren Parameter nach bestem Wissen und Gewissen, setzen sie miteinander in Beziehung und leiten daraus plausible Zukünfte ab. Umso größer die sich entwickelnde Datenflut, desto sicherer fühlen sich Entscheider beim Ausblick auf die Zukunft. Dabei ist im Gegensatz zum Blick aus dem Zugfenster die Zukunft unsichtbar, da sie sich erst entwickelt. Simulationen liefern mehr oder weniger wahrscheinliche Zukünfte. Die Wirklichkeit baut jedoch oft auf Umbrüchen auf, deren dramatische Auswirkungen niemand kommen sieht – z.B. die Einführung der Druckerpresse, der Dampfmaschine, des Computers oder des Internets. Während man im Zug das Kommende bereits absehen kann, bleibt uns nichts, als bei der Frühaufklärung zukünftige Sachverhalte auf der Basis von aus Indizien abgeleiteten Vorannahmen zu schätzen – mit eher geringer Trefferquote. Am besten bereitet man sich vor, indem man das Kommende nach seinen Wünschen gestaltet. Die Wahrscheinlichkeit ist dann größer, dass es so ähnlich sein wird.
  • Die Vergangenheit
    Der Blick in die Vergangenheit ist voll von Geschehnissen, die bereits erfolgt sind. Es ist wie der Blick aus dem fahrenden Zug entgegen der Fahrtrichtung. Es bleibt der Rückblick auf die bereits durchquerte Landschaft ohne die langsam verschwindenden Einzelheiten und Zustände. So ähnlich verhält sich der Blick in die Vergangenheit. Nach kürzester Zeit bildet sich eine Patina, die den sachlichen Blick überdeckt, wenn nicht verunmöglicht. Aus diesem Grund beschäftigen sich Experten mit der Auslegung der Vergangenheit. Zeitzeugen und -dokumenten liefern hierfür Einblicke. Verzerrte Erinnerungen und falsch interpretierte Belege führen unausweichlich zu Geschichtsklitterung. Mit zunehmender Entfernung verlieren die vorübergezogenen Ereignisse an Bedeutung. Im Hier und Jetzt gibt es nur die künstlich am Leben gehaltene Erinnerung an die Geschehnisse. Es reicht, die Lektionen der Vergangenheit zu verstehen, anstelle sich um verfälschte Feinheiten zu bemühen. Inwieweit die Vergangenheit eine Rolle spielt, liegt im Auge des Betrachters – rückwärtsgewandt, gegenwarts- oder zukunftsorientiert. Gefährlich wird es, wenn die Vergangenheit missbraucht wird, um die Gegenwart zu beeinflussen, indem Gegebenheiten, Besitzstände und Neues damit legitimiert werden.
  • Die Gegenwart
    Der parallele Ausblick aus dem Zugfenster ähnelt dem Blick auf die Gegenwart. Alles rast an einem vorbei. Einzelheiten verschwimmen zu einem unklaren Bild. Es bleibt keine Zeit, die Gegenwart zu verarbeiten, da sie innerhalb kürzester Zeit vorbei ist. Damit unsere Sinne etwas erkennen können, müssen optische Eindrücke 20 bis 30 Millisekunden, akustische Sinneseindrücke drei Millisekunden auseinanderliegen. Um die Reize dann noch bewusst wahrnehmen zu können, brauchen wir unabhängig von der Art der Wahrnehmung etwa 20 bis 30 Millisekunden. Das überflutet die Jetztzeit mit einer Unmenge von Daten. Wann die Gegenwart beginnt und wie lange sie dauert, bis sie zur Vergangenheit wird, ist wiederum eine persönliche Einstellung – von wenigen Minuten über Stunden und Tage bis hin zum aktuellen Quartal. Auf die heutige VUKA-Welt können wir nicht mehr mit langatmigen Analysen und Entscheidungswegen reagieren, sondern mit neuen Vorgehen der Zusammenarbeit, Führung und Bildungswegen – z.B. mehr Selbstorganisation, von der Top-Down Anordnung zur gemeinsamen Entscheidung und Ergebnismonitoring.

Fazit: Zeit ist unfassbar. Aus diesem Grund macht sich jeder seine eigene Zeit. Gleichzeitig folgen wir den Rhythmen der Uhr und des Kalenders. Dabei haben Untersuchungen von Kulturen gezeigt, dass in den verschiedenen Regionen andersartige, oft widersprüchliche Zeitvorstellungen bestehen. Bedenkt man diese abweichenden Lebensarten, dann verlieren strikte Zeitpläne ihre Wirksamkeit. Das gilt vor allem für die drei Zeithorizonte: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Machen wir uns die verschiedenen Sichten klar, indem wir aus dem Fenster eines fahrenden Zuges blicken. Nach vorne erahnen wir die Zukunft, ohne sie tatsächlich bereits sehen zu können. Nach hinten entschwinden uns die Gegenwarte in eine Vergangenheit, ohne dass sie uns greifbare Grundlagen hinterlassen. Der Blick parallel zur Fahrtrichtung wird überwältigt von der Flut der Daten, die auf einen einprasseln – je schneller, desto schlimmer. Es bietet sich an, die Stärken der jeweiligen Sicht zu nutzen, um im Hier und Jetzt am besten wirken zu können. Die Sitzrichtung in der Eisenbahn ist dabei die ideale Metapher für die drei grundsätzlichen Zeithorizonte.