Die Sitzrichtung in der Eisenbahn – die ideale Metapher für zeitliche Horizonte

Vergessen wir für die nächsten Minuten, dass wir das Phänomen der Zeit noch nicht verstehen, obwohl wir sie immer feiner messen – eine Atomuhr bietet eine Sekunde Abweichung in 30 Millionen Jahren. Zusätzlich kann es zu einer Dehnung der Zeit kommen, sobald man sich vom Erdmittelpunkt entfernt – zwei Atomuhren, die vor 4,5 Milliarden Jahren synchron gestartet wären, eine auf Meereshöhe und eine 9000 Meter hoch, hätten eine Zeitdifferenz von 39 Stunden, d.h. am Meer wäre die Zeit schneller vergangen. Im Alltag werden diese Unterschiede nicht bemerkt. Wir teilen die Zeit grob in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Blick aus einem fahrenden Zug bietet ein gutes Beispiel für diese Zeiträume.

Im Zug gibt die Platzwahl die Perspektive vor, in und entgegen der Fahrtrichtung sowie gerade hinaus.

  • Die Zukunft
    Der Blick auf kommende Zeiten baut auf eine gründliche Sammlung von Daten, aus denen wir durch Annahmen und unsere Anschauungen Szenarien entwickeln. Da in der westlichen Kultur die Zukunft vor uns liegt, fühlt es sich so an, als sitze man in einem fahrenden Zug und blicke in Fahrtrichtung. Sie sehen entfernte Orte vor sich, auf die sie sich zubewegen und an denen sie im nächsten Moment vorbeifahren. Jedoch ist nicht alles sichtbar – weder alle Elemente oder Feinheiten noch die künftigen Zustände, die sich erst später ereignen. Wir antizipieren Parameter nach bestem Wissen und Gewissen, setzen sie miteinander in Beziehung und leiten daraus plausible Zukünfte ab. Umso größer die sich entwickelnde Datenflut, desto sicherer fühlen sich Entscheider beim Ausblick auf die Zukunft. Dabei ist im Gegensatz zum Blick aus dem Zugfenster die Zukunft unsichtbar, da sie sich erst entwickelt. Simulationen liefern mehr oder weniger wahrscheinliche Zukünfte. Die Wirklichkeit baut jedoch oft auf Umbrüchen auf, deren dramatische Auswirkungen niemand kommen sieht – z.B. die Einführung der Druckerpresse, der Dampfmaschine, des Computers oder des Internets. Während man im Zug das Kommende bereits absehen kann, bleibt uns nichts, als bei der Frühaufklärung zukünftige Sachverhalte auf der Basis von aus Indizien abgeleiteten Vorannahmen zu schätzen – mit eher geringer Trefferquote. Am besten bereitet man sich vor, indem man das Kommende nach seinen Wünschen gestaltet. Die Wahrscheinlichkeit ist dann größer, dass es so ähnlich sein wird.
  • Die Vergangenheit
    Der Blick in die Vergangenheit ist voll von Geschehnissen, die bereits erfolgt sind. Es ist wie der Blick aus dem fahrenden Zug entgegen der Fahrtrichtung. Es bleibt der Rückblick auf die bereits durchquerte Landschaft ohne die langsam verschwindenden Einzelheiten und Zustände. So ähnlich verhält sich der Blick in die Vergangenheit. Nach kürzester Zeit bildet sich eine Patina, die den sachlichen Blick überdeckt, wenn nicht verunmöglicht. Aus diesem Grund beschäftigen sich Experten mit der Auslegung der Vergangenheit. Zeitzeugen und -dokumenten liefern hierfür Einblicke. Verzerrte Erinnerungen und falsch interpretierte Belege führen unausweichlich zu Geschichtsklitterung. Mit zunehmender Entfernung verlieren die vorübergezogenen Ereignisse an Bedeutung. Im Hier und Jetzt gibt es nur die künstlich am Leben gehaltene Erinnerung an die Geschehnisse. Es reicht, die Lektionen der Vergangenheit zu verstehen, anstelle sich um verfälschte Feinheiten zu bemühen. Inwieweit die Vergangenheit eine Rolle spielt, liegt im Auge des Betrachters – rückwärtsgewandt, gegenwarts- oder zukunftsorientiert. Gefährlich wird es, wenn die Vergangenheit missbraucht wird, um die Gegenwart zu beeinflussen, indem Gegebenheiten, Besitzstände und Neues damit legitimiert werden.
  • Die Gegenwart
    Der parallele Ausblick aus dem Zugfenster ähnelt dem Blick auf die Gegenwart. Alles rast an einem vorbei. Einzelheiten verschwimmen zu einem unklaren Bild. Es bleibt keine Zeit, die Gegenwart zu verarbeiten, da sie innerhalb kürzester Zeit vorbei ist. Damit unsere Sinne etwas erkennen können, müssen optische Eindrücke 20 bis 30 Millisekunden, akustische Sinneseindrücke drei Millisekunden auseinanderliegen. Um die Reize dann noch bewusst wahrnehmen zu können, brauchen wir unabhängig von der Art der Wahrnehmung etwa 20 bis 30 Millisekunden. Das überflutet die Jetztzeit mit einer Unmenge von Daten. Wann die Gegenwart beginnt und wie lange sie dauert, bis sie zur Vergangenheit wird, ist wiederum eine persönliche Einstellung – von wenigen Minuten über Stunden und Tage bis hin zum aktuellen Quartal. Auf die heutige VUKA-Welt können wir nicht mehr mit langatmigen Analysen und Entscheidungswegen reagieren, sondern mit neuen Vorgehen der Zusammenarbeit, Führung und Bildungswegen – z.B. mehr Selbstorganisation, von der Top-Down Anordnung zur gemeinsamen Entscheidung und Ergebnismonitoring.

Fazit: Zeit ist unfassbar. Aus diesem Grund macht sich jeder seine eigene Zeit. Gleichzeitig folgen wir den Rhythmen der Uhr und des Kalenders. Dabei haben Untersuchungen von Kulturen gezeigt, dass in den verschiedenen Regionen andersartige, oft widersprüchliche Zeitvorstellungen bestehen. Bedenkt man diese abweichenden Lebensarten, dann verlieren strikte Zeitpläne ihre Wirksamkeit. Das gilt vor allem für die drei Zeithorizonte: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Machen wir uns die verschiedenen Sichten klar, indem wir aus dem Fenster eines fahrenden Zuges blicken. Nach vorne erahnen wir die Zukunft, ohne sie tatsächlich bereits sehen zu können. Nach hinten entschwinden uns die Gegenwarte in eine Vergangenheit, ohne dass sie uns greifbare Grundlagen hinterlassen. Der Blick parallel zur Fahrtrichtung wird überwältigt von der Flut der Daten, die auf einen einprasseln – je schneller, desto schlimmer. Es bietet sich an, die Stärken der jeweiligen Sicht zu nutzen, um im Hier und Jetzt am besten wirken zu können. Die Sitzrichtung in der Eisenbahn ist dabei die ideale Metapher für die drei grundsätzlichen Zeithorizonte.