Versetzen wir uns für einen Moment zwei Millionen Jahre zurück in eine frühe Form der Hominiden, die noch keine Sprache und abstrakte Konzepte hatten. Sie handelten instinktgesteuert. So wie der Schlag eines Reflexhammers unterhalb der Kniescheibe das Bein zucken lässt. Oder die Pupille sich verkleinert, sobald eine Lampe sie beleuchtet. Oder Klavierspielende die richtigen Tasten in der erforderlichen Geschwindigkeit mit dem entsprechenden Schwung drücken, um ein einstudiertes Musikstück zu spielen, ohne bewusste Steuerung der Finger. Unser Denken begann mit unartikulierten Gefühlen. Mit der Zeit entwickelte sich unser Geist – unser Denken, unsere Sprache und unsere absichtsvollen Handlungen. Bis jetzt wissen wir nicht, wie das Bewusstsein arbeitet. Allerdings folgen wir beim Austausch mit der Welt dem Kreislauf der Wahrnehmung. Wer bis hierher liest, nutzt bereits seine Denkfähigkeit. Die mentalen Modelle, die Ideen, Themen und Konzepte waren entscheidend dafür, wie neugierig Lesende noch sind.
Betrachten wir im Folgenden, wie sich das Denken seit den Anfängen entwickelt haben könnte. Die tatsächliche Entwicklung bleibt uns allerdings verborgen.
- Denken 1.0 – Sprache
Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Menschen anfangs Geräusche der Umwelt lautmalerisch nachbildeten. Die sogenannte Onomatopöie nutzen wir bis heute, um die hörbare Welt abzubilden – quaken, ticktack, platsch. Mit der Zeit erweiterte sich die Ausdrucksweise auf unhörbare und abstrakte Dinge – schauen, glauben, rechnen. Neandertaler konnten bereits vor dreihunderttausend Jahren sprechen und mindestens seit sechzigtausend Jahren der Homo sapiens. Seit diesen Anfängen überlebten bis heute geschätzte 7000 Sprachen. 80 Prozent verteilen sich auf 50 Muttersprachen. Wissen aus diesen frühen Zeiten konnten nur mündlich weitergegeben werden. Heute können wir nur erahnen, welche Gedanken und Worte, Inhalte und Bedeutungen in der Vergangenheit mündlich ausgetauscht wurden. Damit bleiben die mentalen Modelle vergangener Generationen für uns unzugänglich. Allerdings steckt das Erbe der lautmalerischen Ausdrucksweise in uns. Wir verinnerlichen nach wie vor klanglich aufgeladene Botschaften besser – Sie klickt sich durch die Webseite. Das Auto rumpelt durch die Straße. - Denken 2.0 – Schrift
Die frühesten „schriftlichen“ Nachweise von Menschen sind über dreißigtausend Jahre alt. Sie überdauerten im Dunkel von unzugänglichen Höhlen. Zwischen den bekannten Felszeichnungen von Tieren und Menschen fand Genevieve von Petzinger Zeichen, die zum Teil noch heute in den Zeichen der Computer zu finden sind (×, Ο, ↑, ∇, #, ∼, ♥, ω, —). Schrift wurde vor über achttausend Jahren erfunden. Am Anfang hielten Verwalter Lagerbestände fest. Der älteste Schriftbeleg ist die Jiahu-Schrift, aus China, die fast 9000 Jahre alt ist. Je dauerhafter das Trägermedium (i.e. Stein, Ton, Metallplatten, Papyrus, Leder und Leinen) ist, desto mehr Nachweise können gefunden werden. Die gefundenen Belege verstehen wir zum größten Teil. Eine Ausnahme bildet beispielsweise das Voynich-Manuskript, dessen Schrift, die Bilder und Bedeutung noch entschlüsselt werden müssen. Obwohl wir eine Schrift entziffern können, fehlen uns oft die Aussprache und die ursprüngliche Bedeutung der Sätze. Bis zur Einführung von mechanischen Vervielfältigungen und vor allem dem Buchdruck mit beweglichen Lettern, erstellten Schreiber die Schriftstücke manuell. Handgeschriebene Manuskripte vermitteln immer noch ein Gefühl von Glaubhaftigkeit. Allerdings besteht wie bei der Sprache viel Raum für unterschiedliche Auslegungen von Texten. Indem wir unsere Gedanken zu Papier bringen, verfügen die Empfänger über mehr Zeit, um sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen, als bei schnell verpuffender Rede. - Denken 3.0 – Medien
Das Vervielfältigen von Schriftstücken erfolgte frühzeitig auf Papyri, Schriftrollen, Holztafeln, Pergamenten oder Papieren. Seit dem achten Jahrhundert nutzen Drucker Lettern aus Holz. Im sechsten Jahrhundert wurden in West-Europa über 13 Tausend Bücher manuell hergestellt. Mit Gutenberg hat Mitte des 15. Jahrhunderts das Informationszeitalter begonnen. Einzelpersonen konnten viele Leser erreichen (1 zu n). Die mentalen Modelle von Lesenden wurden ab dann nicht mehr nur mit bekannten Gedanken aus der Nachbarschaft konfrontiert, sondern mit zeitgenössischen Sichten aus der gesamten Welt. Bis 1800 erreichten die Auflagen in West-Europa annähernd eine Milliarde Druckexemplare. Allein in Deutschland wurden 2013 fast 400 Millionen Bücher gedruckt. Durch die globale Reichweite von Büchern können jetzt exotischste Ideen weitentfernte Gegenden erreichen. Das Wissen wird dadurch erweitert, vielfältiger, widersprüchlicher, aber auch schwerer überschaubar. Um die Infoflut in den Griff zu bekommen, versuchen wir uns vor zu viel Sichtweisen zu schützen. Wir diffamieren die von unserer eigenen Meinung abweichenden als Fake-News, ohne zu bemerken, dass die eigenen Stellungnahmen bereits Fake sein könnten. Mit dem Aufkommen des Internets nimmt die Komplexität weiter zu. - Denken 4.0 – Internet
In den Neunzigern des letzten Jahrhunderts erreichte das World Wide Web die Öffentlichkeit. Seitdem können alle, die Zugriff zum Internet haben, mit jeder einzelnen Person weltweit in Kontakt treten. Die Vernetzung schafft damit einen alternativen, erdumspannenden Raum für alle bisherigen Formen des Ausdrucks – Monolog, Dialog und Diskussion. Der monologische Vortrag (1 zu n), der heutzutage beispielsweise in Facebook, YouTube oder Spotify stattfindet, erreicht heute nicht nur die Umstehenden, sondern weltweit alle angeschlossenen. Das wechselseitige Gespräch (1 zu 1) wird durch die Videotelefonie auch über geographische Grenzen hinweg ausgeweitet. Chats und Bildtelefonie ermöglicht es uns mit anderen Personen in Kontakt zu treten und unsere Gedanken auszutauschen. Diskussionen (n zu m) finden virtuell in Videokonferenzen, wie Zoom, Teams und Skype statt. Hier können sich viele Menschen an einem Event beteiligen. So wie geografische Grenzen weniger stören, erhöhen sich die Anforderungen an die Teilnehmer. Sie brauchen neue Fähigkeiten, wie Computerkenntnisse, Mehrsprachigkeit, Kulturverständnis und empathisches Verhalten. Waren Sie jemals auf chinesischen oder japanischen Foren? Trotz der sich ständig verbessernden maschinellen Übersetzer sind diese kulturellen Abgründe nur schwer zu überwinden. - Denken 5.0 – Künstliche Intelligenz (KI)
Seit Jahrzehnten versuchen Forscher Künstliche Intelligenz zu schaffen. Nachdem Ende des letzten Jahrhunderts aufgrund enttäuschter Erwartungen der KI-Winter eintrat, erzeugen gestiegene Rechnerleistungen und neue Wege der „Konfiguration“ einen KI-Frühling. 1997 setzte DeepBlue Gerry Kasparow Schachmatt. 2015 besiegte DeepMind den Go-Europameister Fan Hui. Seit 2006 überträgt Google Translate maschinell von einer Sprache in über hundert andere. Die spannende Frage ist, ob hierfür Denken erforderlich ist. John Searle unterscheidet zwischen schwacher KI, die den Geist simuliert, und starker KI, die einen Geist hat (John Searle, Geist, 2006). Im Alltag wird es immer schwieriger, Maschinen von Menschen zu unterscheiden. Quantencomputer verarbeiten Daten parallel in unerreichter Geschwindigkeit. Maschinelles Lernen ersetzt das Programmieren von Algorithmen und liefert für die meisten von uns beeindruckende Ergebnisse. Derzeitige Beispiele sind autonome Fahrzeuge, die bereits die Fehlerhaftigkeit von Menschen erreichen. Es ist jedoch Glaubenssache, ob die Maschine tatsächlich denkt. Am Ende lässt sich das noch nicht einmal bei Menschen nachweisen. In jedem Fall ermöglicht das heute schon Ergebnisse, die Menschen nur mit großem Aufwand, wenn überhaupt, erzielen können.
Fazit: Anhand der obigen Entwicklungsschritte ist vielleicht klar geworden, dass das Denken verschiedene Stufen durchlief: Sprache, Schrift, Medien, Internet und KI. Unsere Umwelt hat einen großen Einfluss darauf, wie sich das Denken entwickelt. Sichtbar wird das an den vielfältigen Kulturen und ihren mentalen Modellen. Die Geschichten von Wolfskindern zeigen den Einfluss der Umwelt auf das Verhalten und die Sprache. Unterschwellig wirken die verschiedenen Stufen immer noch im täglichen Miteinander. Wenn wir beispielsweise bei Maluma überwiegend eine abgerundete Form vor Augen haben und bei Takete eher ein zackiges . Mit der Schrift vermitteln wir Inhalte ohne persönlichen Kontakt. Die eigentliche Informationsflut wurde durch die Medien und ihre Massenprodukte möglich. Mit dem Internet sind wir im globalen Dorf angekommen, wo sich wieder Einzelne austauschen – weltweit. Die künstliche Intelligenz wirft ihre ersten Schatten voraus, wenn wir aufhören, etwas auswendig zu lernen, sondern bei Fragen sofort googeln. Trotz aller Fortschritte sind die Level in unserem Kopf noch am Werk. Achtung! Wer die Mechanismen beherrscht, steuert den Rest von uns.