Die Ganz-heit ist Ansichtssache

Unsere Wahrnehmung ist eine persönliche Sache. Einerseits unterscheidet sie sich von einer Person zur anderen. Andererseits ist es nicht möglich, an den inneren Vorgängen der anderen teilzuhaben. Selbst die eigenen unterbewussten Gedankengänge sind nicht immer erreichbar. Da wir uns diese Tatsachen nicht klar machen, gehen wir davon aus, dass alle die Welt gleich sehen: gleicher Blickwinkel, gleiche Inhalte, gleiche Schwerpunkte und gleiche Schlüsse. Der Blick auf das folgende Bild macht das erlebbar. Was sehen Sie?
Einen geringelten Block? Ein handgezeichnetes Bild? Einen Würfel? Die Kanten des Würfels? Oder die abgerundeten Ecken? Eine Eins? Einen schwarzen Punkt auf einer Seite? Der niedrigste Wert eines Würfels? Der bestmögliche Wurf? Der schlechteste? Diese Betrachtungen und die, die Ihnen jetzt in den Sinn kommen, sind alles gültige Sichtweisen. Die Unterschiede sind Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, einfach gesagt: Ansichtssache.

Neben einer großen Zahl von x-heiten, wie z.B. Allgemein-heit, Angelegen-heit, Befangen-heit, Bestimmt-heit, Einfach-heit, Frei-heit, Geschlossen-heit, Gesund-heit, Gewiss-heit, Gewohn-heit, Grob-heit, Klar-heit, Offen-heit, Rein-heit, Selten-heit, Sicher-heit, Unwissen-heit, Wahr-heit, Weis-heit geht es dieses Mal um die n-heiten – die Einzel-heit und die Ganz-heit.

  • Die Einzel-heit
    Einzel-heiten sind einfach die Beobachtungsgegenstände, die wiedergeben, was zu sehen ist – Linien, Punkte, Flächen, Graustufen, und andere bekannte Entitäten. Dieser Blickwinkel liefert ausführliche Beschreibungen von, idealerweise, allen Teilstücken. Auf sie kann man zeigen und sie lassen sich zählen – sofern das Konzept Zahl bekannt ist. Bei näherem Hinsehen könnten die Teile noch weiter untergliedert werden – prinzipiell ohne Ende. Wir betrachten die Einzel-heiten auf dem Detaillierungsgrad, der uns naheliegend erscheint – in unserem Bild vielleicht der Würfel oder die Fünfer-Seite. Die sichtbaren Einzel-heiten sind fünf schwarze Punkte und die Fläche. Jeder Punkt hat einen Durchmesser und wir können sie zählen: 1 + 1 + 1 + 1 + 1 = 5. Der Zusammenhang lässt sich aus den Einzel-heiten ableiten, wenn wir die Punkte als Ganz-heit betrachten (s.u.). Gleichzeitig könnten wir auch einen einzelnen Punkt als Ganz-heit betrachten, was jedoch zu völlig anderen Erkenntnissen führen würde (z.B. bezüglich der Herstellung des Würfels, der genutzten Farbe).
  • Die Ganz-heit
    Das große Ganze in der aktuellen Situation zu erkennen, hängt auch von den Betrachtern und deren Erfahrungsschatz ab. Manche sehen den Würfel. Der Spieler das Glücksspiel? Leser das Symbol des Glücks? Mathematiker den Zufall? Die Ganz-heit ist weniger greifbar, da sie Beziehungen und Zusammenhänge berücksichtigt, die nicht für alle erkennbar sind. Die Umwelt der Ganz-heit liefert Zusatzinformationen – z.B. abhängig davon, ob der Würfel auf einem Brettspiel oder auf einem Kasinotisch liegt. Die Beobachter entscheiden mit ihrer Erfahrung wo die Grenzen gezogen werden. Im Gegensatz zu den Einzel-heiten besteht die Ganz-heit aus mehr als was man sieht. Es ist ein Unterschied, ob man fünf schwarze Punkte oder den zweithöchsten Wert und dessen Bedeutung sieht. In der Folge leiten wir unterschiedliche Maßnahmen aus fünf Punkten oder der Fünf-heit ab. Der ganzheitliche Blick liefert damit mehr als ein Abbild des Gesehenen und versteht, worum es geht. Das dieses Verstehen sich von einer Person zur anderen unterscheidet, versteht sich von selbst.

Fazit: Die Diskussion von alternativen Fakten dreht sich um Einzel- und Ganz-heiten. Während die Einzel-heiten sachlich nachvollziehbar sind, verfügen die Ganz-heiten über Raum für Auslegungen. Das erklärt die alternativen Fakten. Das was den Unterschied ausmacht, liegt im Auge des Betrachters – und der hat immer recht. Die sachliche Beschreibung einer Einzel-heit lässt sich leicht klären, indem man sie vorlegt – Ausnahmen sind gestörte Wahrnehmungen, wie beispielsweise die Sehschwäche von Farbblinden. Sobald jedoch in einer Einzel-heit verhandelbare, nicht nachweisbare Elemente vorkommen, mutiert sie zu einer Ganz-heit. Jetzt beginnt das Gerangel. Die Einzel-heiten ergeben schließlich die Ganz-heit, die jedoch mehr als die Summe seiner Einzel-heiten ist. Damit ist die Ganz-heit Ansichtssache und wird schlussendlich unterschiedlich wahrgenommen.