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Perspektivisch gefangen

Der Kampf um die Wahrheit wird in der VUKA-Welt immer schwieriger. Wo immer etwas passiert, sind Beobachtende mit ihren Mobiltelefonen dabei, das Geschehen zu dokumentieren. Und wenn es keine weiteren Nachweise gibt, dann werden die verwackelten und unscharfen Bilder zu dem einen Blickwinkel auf das Ereignis. Das gilt auch für den Fall, dass Journalisten eine Reportage mit sauberen Aufnahmen machen. In beiden Fällen sehen wir nur einen Bildausschnitt. Alles außerhalb des Bildrandes und jenseits des Horizonts bleibt uns verborgen. Selbst mit mehreren Standorten erhalten wir nur die ausgewählten Sichten. Diese lassen sich durch „Originalton“ so anreichern, dass wir uns hinterher sogar an Ansichten erinnern, die wir gar nicht gesehen haben. Jede einzelne Person ist danach in der subjektiv bemerkten Perspektive gefangen.

Die Fläche einer Leinwand oder eines Bildschirms entspricht unserem Blickfeld. Die Tatsache, dass wir uns immer ein Bild aus einer bestimmten Perspektive machen, ergibt sich aus den folgenden Punkten.

  • Der biologische Bauplan
    Unsere Wahrnehmung beschränkt sich auf das sichtbare Licht mit Wellenlängen von 400 bis 750 nm. Allerdings sehen wir am besten 555 nm am Tag und 507 nm in der Nacht. Außerhalb dieser Bereiche sind wir blind. Um ultraviolett und infrarot sichtbar zu machen, brauchen wir technische Hilfsmittel.
    Weitere Einschränkungen erzeugt das Blickfeld unserer Augen mit 214 Grad horizontal und ca. 150 Grad vertikal. Unsere Augen an der Vorderseite des Kopfes liefern nur etwas mehr als die Hälfte des Rundumblickes. Zweifelsohne können wir unseren Kopf dorthin drehen, wo unsere Aufmerksamkeit durch unsere Sinne (visuell, auditiv, kinästhetisch oder olfaktorisch) hingelenkt wird. Gleichzeitig verschwinden dadurch andere Bereiche.
  • Die einseitige Aufmerksamkeit
    Wir empfangen weit mehr sensorische Daten, als wir denken. Das gesunde Gehirn blendet jedoch die meisten Reize aus, die in der Umwelt oder in unserem Körper entstehen. Ansonsten wären wir durch die Menge völlig überfordert. Bei Menschen, die z.B. an Autismus oder ADHS leiden, sind diese Filter weniger wirksam. Dies führt zu Konzentrationsschwierigkeiten, Realitätsverlust oder Hyperaktivität. Unsere Aufmerksamkeit bleibt normalerweise an einem Punkt – was das sagenhafte Multitasking ad-absurdum führt. Wir verarbeiten zu einer Zeit bewusst eine Sache und blenden den Rest aus, bis wir unsere Aufmerksamkeit woanders hinwenden und den gerade betrachteten Fall aus den Augen verlieren.
  • Das gefilterte Bewusstsein
    Es wird nicht nur unsere Wahrnehmung gefiltert, sondern auch Einzelheiten weggelassen. Unser Bewusstsein wäre überfordert ALLE Details zu verarbeiten. Aus diesem Grund arbeiten wir mit mentalen Modellen, Metaprogrammen und Analogien. Sie entlasten die Speicherung, indem die bereits bestehenden Muster mit den aktuellen Beobachtungen verknüpft werden. Die hervorstechendste Neuigkeit fügen wir unseren Vorstellungen hinzu. Dabei werden manchmal bereits bestehende Inhalte fälschlicherweise mit der beobachteten Situation verknüpft. Wir kennen das von Unfallzeugen, die voneinander abweichende Meinungen liefern, bezüglich Ablauf, Beteiligte und sonstigen Beschreibungen des Vorfalls.
  • Der unerreichbare Unbekannte
    Ludwig Wittgenstein hat geschrieben: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ In ähnlicher Weise stellen unsere Vorstellungen die Grenzen unserer Wahrnehmung dar. Wir übersehen Umstände, weil wir sie nicht kennen. Dieser blinde Fleck entsteht aus der Zurückweisung von bestimmten Sachverhalten – hier werden alle gleich behandelt; wir mobben nicht. Dieses Ausblenden findet statt, wenn die Beteiligten sich nicht von ihren Vorurteilen lösen können, dürfen oder wollen beziehungsweise, wenn ihnen die Vorstellungskraft fehlt – unsere Autos können nur mit nicht erneuerbaren Treibstoffen fahren; die Mitarbeitenden brauchen jemand, der ihnen sagt, was zu tun ist. Können wir etwas nicht erkennen, dann umschreiben wir es mit Allgemeinheiten – das ist wie …; es ähnelt …; das Ding ist …
  • Der begrenzende Horizont
    Zusätzlich reicht unser Blick nur bis zum persönlichen Horizont – in einer Gruppe unterschiedlich, ohne dass wir es merken. Der Blick über den Tellerrand erfordert zusätzliche Anstrengungen. Um dahinter zu blicken, müssen wir in die gewünschte Richtung gehen. Gleichzeitig verschiebt sich der Horizont und es verschwinden dadurch Sachverhalte. Wenn wir am Meer stehen, können wir vier Kilometer weit sehen. Direkt hinter der Sichtgrenze kann sich bereits eine Monsterwelle aufbauen, die in wenigen Minuten unseren Strand ohne Vorwarnung überflutet.
  • Die unendlich vielen Blickwinkel
    Alle bisherigen Aspekte betreffen den Blickwinkel von Einzelpersonen. Im Team erweitern wir unseren Blickwinkel. Mehrere Personen ergänzen sich gegenseitig. Ein typisches SWAT-Team nähert sich einer Bedrohung, wobei eine Person den vorderen und eine andere den hinteren Bereich überwacht. Eine Gruppe kann mehr Aspekte beobachten. Dies ermöglicht kollaborative Erkenntnisse, die größer sind als die einzelnen Beobachtungen. Die unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen der beteiligten Persönlichkeiten lassen die Filter durchlässiger werden. Was manchen sonst unbekannt ist, kann durch einen zeitnahen Austausch gemeinsam genutzt werden. Und schließlich erzeugen mehrere Personen einen gemeinsam ausgedehnten Horizont, indem sie die einzelnen Personen geschickt verteilen und ihre Beobachtungen regelmäßig austauschen.
    Allerdings bestehen IMMER noch mehr Blickwinkel, als beschrieben werden.

Fazit: Wir müssen uns bewusst sein, dass wir gefangen sind in unseren Perspektiven, egal wie weit wir sie erweitern. Unsere biologischen und verstandesmäßigen Beschränkungen lassen sich erweitern, indem wir im Team zusätzliche Perspektiven erschließen. Dies gilt vor allem in der VUKA-Welt, in der die einzelnen Blickwinkel volatil, unsicher, komplex und ambigue sind. Wir müssen uns lösen von dem Glauben an eine Wahrheit. Jeder Beitrag, ob aus der eigenen Gruppe oder von außen, kann den Unterschied machen, der einen Unterschied macht. Wir bestehen in der VUKA-Welt nur, wenn wir jederzeit offen sind umzudenken – aufgrund neuer Einsichten und Geschehnissen. Bei allen Erweiterungen des Blickfelds und der Fähigkeiten zur Anpassung an sich ändernde Gegebenheiten sollten wir nicht vergessen, dass wir immer perspektivisch gefangen bleiben.

Die VUKA-Welt

Ist die Globalisierung nicht mittlerweile vollzogen? Die Netzwerke der Wirtschaft und der Technik haben selbst entlegene Regionen erreicht. Die nächste Stufe wäre die Kosmolisierung – die Erhöhung der Reichweite ins Weltall.  Die Besiedelung von Mond und Mars ist absehbar, wenn auch nicht in großem Ausmaß. Gleichzeitig erzeugen kleine Ereignisse in Macondo, Kolumbien, (z.B. der Flügelschlag eines Schmetterlings in Südamerika) große Auswirkungen in den Great Plains (Tornados in der Tornado Alley). Anders gesagt: Kleine Änderungen der Anfangsbedingungen führen zu unvorhersehbaren, möglicherweise enormen Effekten. Unsere Möglichkeiten zur Vorhersage sind beschränkt, weil die Welt aus vielen Bestandteilen, Beziehungen, Zuständen, Ursachen und Wirkungen besteht, die sich fortwährend ändern: neue kommen hinzu und alte fallen weg. Das mechanistische Weltbild hat uns vorgegaukelt, dass unser Lebensbereich ein kompliziertes Räderwerk ist, das wir mit geschickten Analysen begreifen, uns untertan machen und beherrschen können. Mittlerweile wissen wir, dass diese Vorstellung der Welt nicht gerecht wird. Die „Maschinerie“ ändert sich so schnell, dass wir sie in der verfügbaren Zeit weder verstehen noch bewusst auf sie antworten können. Diese neue dynamische Kompliziertheit nennen wir VUKA.

VUKA ist ein Akronym für das Wesen unserer unbeständigen Welt – Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität. Jeder Begriff beleuchtet einzelne Eigenschaften, die früher als kompliziert, chaotisch oder komplex bezeichnet wurden.

  • Volatilität
    Das gefühlte Tempo, mit der sich unsere Umgebung ändert, wird durch die Fortschritte der IT zusätzlich beschleunigt. Die Rechenleistungen, die Geschwindigkeit, mit der die Daten von A nach B gelangen und die allgegenwärtigen RFID-Transponder erzeugen einen unvorstellbar anwachsenden Datenstrom. Die Sachlage wird immer schneller aktualisiert und durch das World Wide Web (WWW) überall verfügbar. Die Daten haben sich bereits geändert, bevor sie bei den Anwendenden ankommen, geschweige denn verarbeitet werden. Denken wir an den Aktienmarkt, der mehr als vier Transaktion pro Millisekunde durchführt – das sind mehr als 136 Millionen Geschäfte am Tag. Menschen können diese Flut weder überblicken, noch bleibt ausreichend Zeit, um überlegt zu reagieren. Die so entstehende Kurzlebigkeit von Bedeutung, die Volatilität, erfordert neue Ansätze für den Umgang mit dieser scheinbaren Verfügbarkeit von Zahlen, Daten und Fakten (ZDF). Wir erhalten zwar aufschlussreiche Muster, die bei einer Entscheidung helfen. Allerdings werden gleichzeitig abweichende Sichten geliefert, die uns Lost-in-Info zurücklassen.
    Einen Ausweg bietet die Mischung aus Systemdenken, Info-Literacy und Intuition. Mit einer klaren Beschreibung der gegenwärtigen Lage, langfristig gültigen Vorausschau, bekannten Anforderungen der Stakeholder, den gewünschten Ergebnissen und ausreichend verfügbaren Mitteln und Freiräumen können die lokalen Akteure bei der Umsetzung der Aufgaben angemessen vorgehen.
  • Unsicherheit
    Es ist nicht nur die Datenmenge, die die Unternehmen flutet. Darüber hinaus sind die Daten redundant und dadurch inkonsistent. Trotz der Fülle fehlen meistens noch wesentliche Einzelheiten. Manches wird beschrieben und anderes weggelassen. Dies schafft eine trügerische Grauzone mit vielen Möglichkeiten, die aber nicht immer notwendig sind. In der Folge treffen abweichende Meinungen aufeinander, die verstärkt durch unterschiedliche Interessen ausdiskutiert werden müssen. In Zeiten des Übergangs wie bei der Einführung neuer Geschäfte lassen sich viele Zukünfte herleiten. Am Ende wird unter Unsicherheit entschieden.
    Um das Beschließen zu vereinfachen, sind nachgiebige Grundsätze und Begründungen wünschenswert. Alle Beteiligten müssen sich von unsicheren oder unzeitgemäßen Logiken trennen und umdenken, um die vagen Aufgaben zu bewältigen – weg von vorgegebenen Ansätzen, hin zu einem Denken auf Grundlage von Wahrscheinlichkeiten und übergreifenden Blickwinkeln. Die neuen Denkmuster müssen allen Beteiligten in Schulungen beigebracht werden.
  • Komplexität
    Die unvorstellbare Anzahl von Bestandteilen, Beziehungen, Zuständen, Ursachen und Wirkungen erzeugt eine dynamische Kompliziertheit, die wir Komplexität nennen. Allerdings verharren die Einzelteile nicht wie im mechanistischen Weltbild in einem stabilen Gefüge, sondern jedes verändert sich unentwegt in seiner Geschwindigkeit. Die jeweilige Lage lässt sich in der verfügbaren Zeit dadurch nicht abschließend beschreiben. Nehmen wir nur die Wechselwirkungen zwischen den Verkehrsteilnehmern – die Fußgänger, Fahrräder, Autos, Lkws, Busse, Straßenbahnen, Züge und Flugzeuge. Alle bewegen sich nach eigenen Regeln durch das engmaschige Verkehrsnetz. Bis der aktuelle Zustand erfasst ist, haben alle ihre Position bereits unvorhersehbar geändert. Da komplexe Sachverhalte nie offensichtlich und beschreibbar sind, flutet ein Tsunami von Daten unsere Aufmerksamkeit und bewirkt endlos verfehlte Vorhersagen.
    Der Umgang mit Komplexität erfordert das Ausarbeiten und Erklären von vereinfachenden, stimmigen Modellen mithilfe von Überzeugungen, Geschäftsmodellen und Wegen in die Zukunft. Gleichzeitig braucht die komplexe Lage der Aufgaben entsprechende, vielfältige Fähigkeiten. Alle Beteiligten tragen durch aktives Ausprobieren zum Ausbau der Mittel und Wegen des Unternehmens bei.
  • Ambiguität
    Die meisten Kulturen sind von uns nur noch einen Klick entfernt. Rivalisierende Überzeugungen und unterschiedliche Auslegungen treffen unvorbereitet aufeinander. Aussagen werden durch die eigenen Mindsets und den jeweiligen Kontext verfälscht. Mehrdeutige Hinweise erzeugen unweigerlich Missverständnisse. Trifft beispielsweise eine monochrones auf ein polychrones Mindset, belastet das die Zusammenarbeit – wenn einerseits der Wunsch nach Pünktlichkeit und andererseits ein lockererer Umgang mit Zeit beide Parteien stresst. Die Beschlüsse werden in heterogenen Gruppen auf der Grundlage von unterschiedlich ausgelegten Annahmen gefällt.
    Es sind ausdrückliche Abklärungen nötig, um die Mehrdeutigkeit durch klare Erwartungen, Vereinbarungen und gemeinsame Begriffe auf einen Punkt zu bringen. Dazu gehören das Beschreiben des größeren Ganzen, die Klärung der Nomenklatur und die gemeinsame Sicht auf die jeweilige Lage. Sind die täglichen Routinen und Regeln allen verfügbar, dann entsteht ein gemeinsames Verständnis. Die Eindeutigkeit liegt im Auge der Betrachtenden und erfordert proaktiven, offenen Austausch der Meinungen über Ebenen und Silogrenzen hinweg.

Fazit: Die sich ausbreitende VUKA-Welt wird belastet durch die siebenplusminuszwei Chunks, die wir im Alltag verarbeiten können. Die überwältigende Komplexität, die sich unentwegt verändert, mehrdeutig und unzuverlässig ist, enttäuscht unsere Hoffnung auf einfache, verfügbare Ansätze. Trotz massiver IT-Unterstützung können wir die fehlenden Fähigkeiten, VUKA verarbeiten zu können, nicht ausgleichen. Im Gegenteil! Die zusätzlichen Inhalte, die helfen sollen, verstärken die VUKA-Welt. Den Gliederungen und detaillierten Auswertungen fehlt die Zeit, wirksam zu werden, da neue Unterschiede der kleinsten anfänglichen Parameter jederzeit auftreten und zu unabsehbaren Folgen führen. Das Mindset der Beteiligten in einer VUKA-Welt braucht die Theorie  Y von McGregor. Es wird erweitert um das Denken in Systemen sowie Gestaltungs-, Kommunikations- und Koordinationsfähigkeiten mit mehr Raum für Intuition. Last, but not least braucht die VUKA-Welt mehr denn je die geschickte Aufbereitung von Daten. Allerdings liefert Software keine Antworten mehr, sondern nur Grundlagen für bedarfsorientierte Entscheidungen. Wir benötigen neue Ansätze für unser Tun, denn es gibt keinen Weg zurück zu einem einfachen Wenn-Dann. Die Welt ist heute VUKA.