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Das Pendel in der Servicewüste

Es war einmal der Einzelhandel, da hatte der physische Kunde, der sich die Mühe gemacht hat in ein Geschäft zu gehen, die volle Aufmerksamkeit des Personals. Nichts war wichtiger als der direkte Kontakt, die persönliche Beratung und der freundliche Umgang mit der Kundschaft. So mancher Anrufer ist damals verzweifelt, weil einfach niemand ans Telefon ging, solange ein Kunde im Laden war. Die heute automatisierten Telefonschleifen, die vollautomatisch die Kunden mit den immer gleichen Fragen fernhalten, um schließlich mit der freundlichsten 22-kHz-Stimme zu vermelden, dass alle Leitungen besetzt sind, und man doch bitte zu einem späteren Zeitpunkt zurückrufen solle – und schon beginnt die ganze Frage-Antwortlitanei von vorne. Den Frust bekommen die Subunternehmer der Subunternehmer ab, die bei der Paketübergabe am Ende der Wertschöpfung, den verbleibenden Kundenkontakt pflegen – ohne Teil der Webshops zu sein, ohne Einfluss auf den Gesamtablauf zu haben oder einen angemessenen Anteil am Umsatz zu bekommen. Unmerklich ist das Servicependel zurückgeschwungen. Wir befinden uns mittlerweile in einer plumpen Konsumwelt, in der der Konsument bezahlen darf, aber ohne Anspruch auf eine entsprechende Leistung.

Auf was sollten Unternehmen achten, die sich vom Wettbewerb absetzen wollen, um die Leistungen angemessen zu erbringen?

  • Allgegenwärtiger Kontakt
    Eigentlich hat der Gesetzgeber festgelegt, dass alle Anbieter für die Kunden erreichbar sein müssen – probieren Sie es bei Amazon, Google, LinkedIn, Alibaba, oder Facebook. Eine beachtenswerte Ausnahme ist Xing mit seinem Impressum. Kompetente Ansprechpartner zu bieten ist ein zusätzlicher Aufwand, der jedoch langfristig von den Kunden honoriert wird. Aber Vorsicht: Heutige Computer funktionieren zuverlässiger als Callcenter in Indien.
  • Multi-Channel Zugang
    In den Offline- und Online-Kanälen können Inhalte wiederverwendet werden. Geschäfte mit lokaler Reichweite können mit Plakaten, Postwurfsendungen, aber in ihren Geschäften, mit mobilen Markt- und Messeständen die Kunden außerhalb des Internets erreichen. Dies bedeutet nicht, dass man keine Online-Präsenzen braucht: Webseite, E-Mail-Marketing und Beteiligung in den Sozialen Netzen. Dabei geht es nicht nur um die Verkaufsanbahnung, sondern auch um Unterstützung bei der Auswahl, dem Einsatz und der Problembehebung.
  • Feste Öffnungszeiten
    Das Internet verspricht 24/7 Verfügbarkeit. Aus wirtschaftlichen Gründen bieten viele ihre Leistungen nur während der üblichen Bürozeiten an. Kunden verstehen das, solange sie keine Rückfragen haben. Mit den heutigen Erwartungen eines schnellen Kontaktes ist es geschickt, eine Art Notkanal, für die verbleibenden Stunden zu bieten, der es den Kunden ermöglicht, ihre Anfragen kurzfristig loszuwerden.
  • Minimalisierte Antwortzeit
    In jedem Fall sollten Antworten an den Kunden schnell erfolgen. Es ist sinnvoll den Kunden eine Antwortzeit sicherzustellen – Anfragen aus der Nacht werden sofort am nächsten Morgen abgearbeitet. Es reicht nicht einen Mitarbeitenden abzustellen, der dann Dutzende Eingänge abarbeitet. Was zählt, ist die Dauer einer Anfrage. Reichen die Kapazitäten nicht aus, dann sollte man die Antwortzeit verlängern oder mehr Kapazitäten abstellen. Kunden ohne Antwort könnten für immer verloren sein.
  • Persönliche Ansprache
    Die Hintertür der durchdachten, automatisierten Antwortmails, die nichts zur Lösung beitragen, helfen nicht mehr. Die Kunden wissen, dass „Wir kümmern uns baldmöglichst um ihre Anfrage.“ bedeutet, dass bisher sich noch niemand gekümmert hat. Rückmeldungen sollten eigens formuliert werden, mit persönlicher Anrede, dem Bezug zum Problem und einer ersten Skizze der Lösung.
  • Aussagekräftiges Berichtswesen
    Die Anfragen via Internet lassen sich leicht verfolgen. Aber auch Anrufe können heute mit dem entsprechenden Ticketing-System Daten liefern. Die Dauer vom Eingang bis zur Lösung zeigt mögliche Schwachstellen. Dazu gehören auch Schwächen einzelner Personen. Bei allem Schutz der Mitarbeitenden wäre es fatal, ihre Leistungen nicht sichtbar machen zu können.
  • Konsequentes Ausmerzen von Schwachstellen
    Werden Schwachstellen sichtbar, dann sollten diese kurzfristig angegangen werden. In Japan können alle das Produktionsband anhalten, wenn ein Fehler auftritt. Nur so wird die Anhäufung von schlechten Ergebnissen vermieden. Selbst bei den Daten der Mitarbeitenden geht es am Ende nicht um Sanktionen, sondern um die Verbesserung der Fähigkeiten durch entsprechende Maßnahmen.

Die Kostenvorteile im Onlinehandel, ohne Laden und Verkaufspersonal, aber mit den Skalenvorteilen, der grenzenlosen Reichweite und den flexiblen Lieferketten haben nicht nur den Einzelhandel, sondern auch den Servicegedanken ausgelöscht. Tritt in einem Onlineshop ein Problem auf, dann sucht man lange, bis ein Kontakt gefunden und hergestellt wird – wenn überhaupt. Und das gilt weniger für die kleinen Shops, die Abmahnung fürchten, sondern für die großen Konzerne, wie z.B. die GAFAs (Google, Amazon, Facebook, Apple). Wenn dann noch Lieferungen gemeldet werden, die nicht auffindbar oder am Ablageort verfügbar sind, dann bricht über dem zahlungswilligen Kunden das Kartenhaus zusammen – und die Verantwortung haben immer die anderen in der Wertkette.

Fazit: Die Neue Welt des Konsums hat sich durchgesetzt, trotz schlechter CO2-Bilanz, prekärer Arbeitsplätze und dem völligen Verlust des Servicegedankens. Die Kunden erzeugen zwar die Einnahmen, aber die Unternehmen haben Wege gefunden, die aufwendigen Angebote der Einzelhändler verschwinden zu lassen. Der Kunde nimmt das hin, solange der Preis stimmt – d.h. billig, solange keine Unterstützung nötig ist und keine Probleme auftreten. Da dies nicht so weiter gehen wird, sollten die Anbieter ihre Ansätze überdenken. Warum nicht eine klare Anlaufstelle bieten? Oder den Kunden Services über unterschiedlichste Kanäle anbieten? – Mit klaren Öffnungszeiten, ohne Verzögerung und einer persönlichen Ansprache. Am früheren Point of Sales (PoS) hatten die Anbieter persönlichen Kontakt mit den Fragen und Nöten der Kunden. Heute nutzt man ein IT-gestütztes Berichtswesen. Wenn dann noch die erkannten Schwachstellen ausgemerzt werden, dann wird das Pendel wieder zurückschwingen – raus aus der Servicewüste.

Das Pendel – die ideale Metapher für Rahmenbedingungen

Ausschlaggebend für die Bewegung des Pendels ist die Zufuhr von Energie. Dies erfolgt direkt, indem das Senkblei einen Stoß erhält. Es kann auch der Faden bewegt werden, um das Lot in Schwingung zu versetzen. Löst man das Lot vom Faden, dann fällt es, wie der newtonsche Apfel auf den Boden und schwingt nicht mehr. Überträgt man die Eigenschaften eines Pendels auf andere Sachverhalte, erhält man ein intuitives Verständnis der Möglichkeiten, die wir im Alltag, in der Wirtschaft und als Gesellschaft haben.

pendel

Beschränken wir das Verhalten eines Pendels mal auf die folgenden drei Eigenschaften.

  • Motor
    Die Stärke der zugeführten Energie bestimmt, welche Bereiche vom Pendel erreicht werden können. Viel Schwung führt zu starken Ausschlägen und leichte Anstöße führen zu engen Kreisen. Wird stetig Energie hinzu geführt, dann bleibt das Ganze nie stehen.
  • Unvorhersagbarkeit
    Die eigentliche Schwingung des Pendels lässt sich nicht vorhersagen, da die Einflussfaktoren so klein sein können, dass sie nicht messbar oder gezielt steuerbar sind. Dies führt zu zufälligen Ergebnissen.
  • Grenzen
    Gleichzeitig ist der Bereich, in dem sich das Pendel bewegen kann, fest durch den Faden vorgegeben. Solange das Gewicht am Ende des Fadens baumelt und dieser wiederum an der gleichen Stelle aufgehängt bleibt, finden die Ausschläge und Bahnen in einer klar abgrenzbaren Fläche statt.

Die Möglichkeiten, die man persönlich hat, die unser Team hat, die wir als Firma haben, sind ebenfalls bestimmt durch Rahmenbedingungen, die denen eines Pendels ähneln.

Jeder kann aus seinem Leben das machen, was er will. Wie weit oder eng die Grenzen sind, bestimmt vor allem die Energie, die man aufwendet. Je mehr man sich anstrengt, desto größer sind die Effekte. Stellt man die Zufuhr von Energie ein, dann schränken sich die Möglichkeiten wieder ein. Den Anreiz dazu holt man sich am Besten bei sich selbst. Im Vorhinein ist es natürlich schwer zu sagen, was dabei herauskommt. Aber die Richtung kann man beeinflussen. Fühlt man sich beschränkt durch die aktuellen Optionen, dann muss man unter Umständen die eigenen Grenzen überwinden, in dem man seine Aufhängung ändert und seine Chancen woanders wahrnimmt. Der neue Schwingungsraum bietet zwar neue Aufsetzpunkte, ist jedoch auch wieder beschränkt durch neue Grenzen.

Eine Arbeitsgruppe besteht aus vielen Einzelpersonen, die ihre Möglichkeiten mitbringen. Je nach der Vielfalt der Charaktere und Fähigkeiten deckt das Team eine größere oder kleinere Fläche ab. Entgegen dem üblichen Ansatz gleichartige Menschen in ein Team zu stecken, ist es besser völlig verschiedene Menschen einzubinden, um den maximalen Ausschlag zu ermöglichen. Die Triebfedern der Gruppe sind die, die den anderen die Energie vermitteln, damit sie in Bewegung bleiben. Selbst mit der besten Planung lässt sich vorher nicht sagen, wie weit die Gruppe kommt. Mit den richtigen Vorgaben ist der Kurs wenigstens abgestimmt. Mit der entsprechenden Aufhängung stimmt der Rahmen der Möglichkeiten. Holt man sie aus der gewohnten Umgebung heraus, lösen sich die Grenzen solange auf, bis sie durch entsprechende Regeln neu festgelegt sind. Unter anderem darum sind agile Teams so wirkungsvoll.

Ein Unternehmen zieht Vorteile aus einer starken Energiequelle. Dies muss nicht der geniale Kopf á la Silicon Valley sein. Dies kann auch die entsprechende Kultur sein, die mit allen Mitteln jeden einzelnen Mitarbeiter, jedes Team und jede Abteilung mit Energie auflädt – die mitreißende Vision, die fesselnden Ziele für alle oder ein angenehmes Arbeitsklima. Auch hier gilt: je mehr Vielfalt man zulässt, desto größer sind die Möglichkeiten. Die Zukunft ist ungewiss, solange man sie nicht proaktiv gestaltet. Wer sich treiben lässt, fällt zurück – auch wenn das für manche die angestrebte Position ist. Die Grenze für ein Unternehmen ist die Welt. Mehr gibt es heute noch nicht.

Das Pendel schwingt unentwegt – von der Zentralisierung zur Dezentralisierung, von der Anarchie zur Diktatur, von Wachstum zu Stagnation, von festgelegt zu offen. Die Grenzen, in denen wir uns bewegen, ergeben sich nicht einfach, sondern sind das Resultat von den Möglichkeiten aller Beteiligten. Das Pendel schwingt immer wieder hin und her. Eigentlich sollten die Muster klar sein. Aber es schwingt nie in die vorherige Position zurück, sondern in eine leicht veränderte – aber trotz allem ähnliche.

Fazit: Anhand des Pendels lassen sich die Rahmenbedingungen verdeutlichen, mit denen wir uns tagtäglich auseinandersetzen müssen. Ohne kontinuierliche Zugabe von Energie bleibt alles stehen. Und was passieren wird, ist schwer vorhersagbar, obwohl es sich in bestimmten Grenzen bewegt. Vielleicht hilft uns das Pendel bei der Suche nach unseren Möglichkeiten, indem wir die benötigten Energiequellen finden, großzügiger vorausschauen und uns die Grenzen bewusst machen.