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Was wir wissen können

Was wir wissen können, hat schon Sokrates laut Platon beschäftigt „Ich weiß, dass ich nicht weiß (eigentlich: Ich weiß als Nicht-Wissender – οἶδα οὐκ εἰδώς, oîda ouk eidōs)? Auch Heinrich von Pierer hatte seine Sicht auf das Wissen seines Unternehmens: Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß. Trotz aller Aufmerksamkeit wird übersehen, dass Wissen nur mittelbar über entsprechende Medien (Papier, elektronischen Medien und Kanälen) greifbar wird. Nicht ein Austausch von Wissen, sondern ein Duplizieren von Daten findet statt. Der Sender trennt sich nicht von seinem Wissen, sondern bietet durch Filter verzerrte Formulierungen an (s. Metamodell der Sprache). Es ist der Empfänger, der die Daten auslegt. Verstärkt werden die Verfälschungen durch die fortwährende Evolution unserer Kenntnisse. Was heute gilt, kann morgen falsch sein. 2017 hat Kellyanne Conway die Aufmerksamkeit in die richtige Richtung gelenkt, indem sie von alternativen Fakten gesprochen hat. Niklas Luhmann hat bereits im letzten Jahrhundert beschrieben, dass die Information, die Mitteilung und das Verstehen kontingente Vorkommnisse sind, d.h. eine Aussage ist weder notwendig noch unmöglich und kann so sein oder anders. Was können wir mit dieser Erkenntnis heute noch wissen.

Wenn wir die Absichten der Sender mal außer Acht lassen und den Inhalt betrachten, das Wissen, dann bleiben vor allem ein paar Fragen, die vorab geklärt sein müssen, um sich gegenseitig infrage zu stellen: Was ist wissen? Was ist der Unterschied zu Nicht-Wissen? Die folgenden Punkte liefern Denkanstöße.

  • Zeichen – Daten – Information – Wissen – Weisheit
    Seit der beschleunigten Verarbeitung von Daten mit IT stehen wir vor der Frage: Was ist Information? Nach der Jahrtausendwende hat Wissensmanagement die Fragestellung mit der Wissenspyramide beantwortet (siehe auch Memeeinheiten). Auf der untersten Stufe finden sich die Zeichen (Ikone, Bilder, Licht- oder Lautsignale), die sich auf der nächsten als Daten (z.B. 101010) abbilden lassen. Sobald die Daten in einem Sinnzusammenhang stehen, ergeben sich auf dem darüberliegenden Level Informationen (z.B. 42). Mit der Zeit angesammelte Angaben vernetzen sich dann auf der nächsten Schicht zu Wissen (z.B. die ultimative Antwort nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest), dass dann an der Spitze zu Weisheit wird (z.B. Science-Fiction liefert interessante Ideen). Es gibt keine Schnittstellen, um die oberen drei Stufen mit sachlichen Mitteln zu auszuwerten. Niemand kann in den Kopf eines anderen blicken.
  • Sehen heißt glauben – heißt wissen?
    In der Vor-Internetzeit hatten die vierte Gewalt, die Medien neben Exekutive, Legislative und Judikative, die Kontrolle über Auslegungen von Sachverhalten. Was Schwarz-auf-Weiß stand, vorlag als Photo oder Film wurde als gegeben akzeptiert. In Ermangelung von Meinungsäußerungen von sonstigen Augenzeugen kamen auch keine Zweifel auf. Heute haben alle ein Handy, Zugang zu den sozialen Medien und sogar eine eigene Webseite. Damit werden sie zu einem Verleger mit globaler Reichweite – in einem rechtlichen Vakuum mit nur nationalen Vorschriften, die schwer durchzusetzen sind. Nehmen wir als Beispiel Wikipedia, die nur Beiträge auflegt, die für eine Enzyklopädie relevant sind und woanders nachprüfbar veröffentlicht sowie vom Autor selbst zusammengestellt wurden. Das grenzt undokumentiertes Wissen aus. Damit verstehen wir nur die Hälfte.
  • Ist mündliche Überlieferung Wissen?
    Erst vor über 7000 Jahren wurde die Schrift erfunden. Davor erfolgte der Wissenstransfer über Jahrtausende durch mündliche Überlieferung. In Fahrenheit 451 hat Ray Bradbury eine bücherlose Zukunft vorgestellt, in denen die Klassiker der Weltliteratur wieder mündlich weitergegeben wurden. Dieses gesprochene Wort fände beispielsweise keinen Eingang in die Wikipedia. Unser Wissen auf Daten zu beschränken, die sich auf irgendwelchen physischen Trägern befinden, würde uns verdummen lassen. Die Wahrheit würde ohne Veröffentlichung den Autoren, Fotografen, Filmern und sonstigen Archivaren überlassen bleiben. Erst wenn die Gedanken auf ein Medium externalisiert sind, wären sie Wissen – das gesprochene Wort allein reicht ja nicht. Damit weiß die Welt nicht, was die Welt weiß.
  • Persönliche Erklärungen
    Wissen bildet sich ausschließlich im Kopf der Beobachter. Das persönliche Fachgebiet, die erlernten Denkmodelle, über die Zeit gemachte Erfahrungen und unbewusste Gefühle sind entscheidend für die jeweilige Erklärung. Das führt zu unterschiedlichen Fakten, wie die obige Auslegung von Douglas Adams oder die andere Lesart von Lewis Carroll nämlich irgendeine Bedeutung zeigen. Neu war für mich, dass es sich bei 42 auch um die zweite pseudo-vollkommene Zahl handelt. Und wer weiß schon, dass es sich um Franks aktuelles Alter handelt. Da die Bedeutung vom Empfänger bestimmt wird, geht die Absicht des Senders verloren, da sie nicht übertragen werden kann. Die Welt muss wohl oder übel alternative Fakten aushalten.
  • Bestätigte Sachverhalte – wenn ja, wie viele Nachweise
    Die Beschreibung einer Situation hängt vom Standpunkt ab. Aus verschiedenen Sichten ergeben sich automatisch alternative Wirklichkeiten, die für sich genommen stimmig sind. Zusätzlich werden Betrachter, die eng beieinanderstehen, aufgrund von unbewusstem Gruppenzwang Beschreibungen zustimmen, obwohl sie eine andere Beobachtung gemacht haben. Wird ein Sachverhalt durch viele Beobachter besser? Wenn ja, wie viele müssen es sein, damit es gewusst ist. Den klassischen Medien reichen mindestens zwei übereinstimmende Quellen, um eine Tatsache zu übernehmen. Vereinzelte Beobachtungen bereichern das Wissen der Welt nicht?
  • Wissen schafft die Wissenschaft
    Wissen ist in der Wissenschaft verortet. Die verschiedenen Disziplinen haben mittlerweile ihre Echokammern so stark ausgebaut, dass übergreifende Ansätze andersartiges Wissen integrieren wollen. Wenn beispielsweise die Technik Erkenntnisse aus der Biologie im neuen Feld der Bionik einbaut. Der Vorteil der WissenSchafft, ergibt sich aus den umfangreichen Belegen, die in Laboren oder der Wirklichkeit gesammelt und in Studien veröffentlicht werden. Schwierig wird es bei Phänomenen, die sich nicht messen lassen, wie z.B. die Wirkung von homöopathischen Präparaten. Die natürliche Reaktion von Wissenschaftlern auf solche Blackbox-Effekte ist Ablehnung aufgrund der fehlenden Nachweisbarkeit. Die Verfechter von derartigem (Nicht-)Wissen werden als Esoteriker, Mystiker, Sektierer oder Verschwörungstheoretiker verunglimpft. Schließen wir die Weisheit eines Schamanen oder von Sokrates aus dem Weltwissen aus?
  • Nur Wahres ist Wissen
    Die Verirrung, dass allein bestätigte Gegebenheiten wahr sind, hat Karl Popper mit seiner Falsifizierung aufgelöst. Tatsächliche Wahrheit erhält man, wenn man eine Gegebenheit widerlegt. Und wie ordnen wir das weite Feld der Literatur ein? Ist es Wissen, wenn wir das Personal der menschlichen Komödie oder den Steppenwolf kennen? Sind fiktive Geschichten wahr? Führt eine ungewöhnliche Perspektive zu einem besonderen Wissen? Kann man dieses Wissen infrage stellen, weil die Mehrheit es anders wahrgenommen hat? Am Ende sind alle Sachverhalte bemerkenswert und gültig. Alle richten ihre Aufmerksamkeit auf verschiedene Aspekte. Selbst Aussagen, die mutwillig verfälschen, schaffen Wissen (Hier wäre das Warum von Nöten). Umfasst Weltwissen nicht alles?

Fazit: Das Unfassbare des Wissens erschwert seine Einordnung. Die verschiedenen Formate von Daten geben keine Auskunft darüber, wo das Wissen herkommt – außer: aus dem Kopf eines jeden Menschen. Verstehst Du den Satz? In Japanisch: この文を理解していますか?; oder in Arabisch: هل تفهم هذه الجملة؟. Dabei sind wir für alle Arten von Wissen offen, sobald wir es sehen oder hören. Welche Information wir verstehen, hängt jedoch von uns ab, von unserem Erfahrungsschatz. Als Gruppenwesen haben wir die Tendenz den Vielen zu folgen – was den Zulauf der Verschwörungstheoretiker erklärt. Allerdings muss man sich fragen, ob es sich bei einer sogenannten Verschwörungstheorie nicht auch um Wissen handelt. Immerhin glauben wir auch den Ergebnissen von Wissenschaftlern, ohne sie überprüfen zu können. Die Bibliotheken sind voll von wissenschaftlichen Abhandlungen, die unseren Wissensstand beschreiben – aber was heute als gültig erklärt wird, kann morgen veraltet sein. Selbst Wahrheit hilft uns nicht, da alle ihre eigene Realität haben, die stimmig in die eigenen Konzepte passt. Was wir wissen können ist, dass es viele Sichten gibt, die sich nicht auf eine Wirklichkeit reduzieren lassen. Es ist viel wichtiger, Glaubenskriege zu vermeiden, da es in der Natur von Aussagen liegt, dass sie auch anders sein könnten. Wir müssen lernen mit alternativen Fakten umzugehen, anstelle sie kategorisch zu verneinen.

Es ist nicht immer ein Problem – für Jeden

Die entscheidende Frage ist nicht, ob Auffälligkeiten ein Problem sind, sondern für wen und ab wann. Der Startpunkt einer Problemlösung ist der Moment, indem ein Sachverhalt von jemandem zu einem Problem erklärt wird. Das Beispiel für den geschickten Umgang mit Problemen ist bekannt geworden durch das Produktionssystem von Toyota. Hier können Mitarbeiter die Fertigungsstraße anhalten, wenn sie einen Fehler bemerken, der nicht sofort gelöst werden kann. Dies setzt natürlich das entsprechende Verständnis voraus, was ein Fehler ist, und dass die Abweichung wahrgenommen wird und sich Mitarbeiter zuständig fühlen. Es beginnt bereits bei kleinen Dingen. Ein zerbrochener Bleistift ist zwar nicht mehr komplett, aber funktioniert noch. Nicht alle stören sich an dem Makel, solange man damit schreiben kann. Und selbst, wenn ein Sachverhalt als Problem angesehen wird, heißt das noch nicht, dass sich jemand dafür zuständig fühlt und sich darum kümmert. Es ist eben nicht immer ein Problem – für Jeden.

Ein Problem muss zuerst die Wahrnehmungsschwelle der Beteiligten überschreiten, bevor sie sich darum kümmern können. Die Höhe hängt von allgemein bekannten Einflüssen ab.

  • Einfluss von Stereotypen
    Allgemeine Kennzahlen sollen normalerweise das frühzeitige Erkennen von Problemen ermöglichen. Die Verarbeitung der Kenngrößen wird jedoch durch Zusatzinformationen, wie beispielsweise lebhafte Stereotype, so verzerrt, dass diese mehr Gewicht haben, als die sachlichen Messungen. Liefert jemand die Messwerte, der einen unzuverlässigen Ruf hat, dann werden sie weniger beachtet, als wenn sie von einer respektierten Person kommen. Entsprechend werden nicht alle Probleme zu Problemen.
  • Einfluss von Stimmungen
    Erfahrungen graben sich tief in unser Unterbewusstsein ein. Jedes Mal, wenn sich etwas wiederholt, verstärkt sich dieser emotionale Anker, ohne dass wir es bemerken. Treffen wir auf eine ähnliche Situation, dann aktivieren sich diese Gefühle und beeinflussen unsere Einschätzung. Ist ein bestimmter Sachverhalt bereits öfter aufgetreten, ohne dass man Schaden genommen hat, kann das dazu führen, dass der bemerkte Sachverhalt nicht als Problem erkannt wird. Entsprechend werden nicht alle Probleme zu Problemen.
  • Einfluss von ähnlichen Sachverhalten
    Eine Einschätzung findet nie alleine aufgrund des vorliegenden Falles statt. Es werden automatisch ähnliche Situationen berücksichtigt. Die Ähnlichkeit ist eine Frage der Inhalte, der handelnden Personen und des sonstigen Kontextes. Sobald man seine Benchmarks gefunden hat, richtet man sich an den Schlüssen und Ergebnissen dieser Vergleichsfälle aus. Ist schon tausendmal nichts passiert, wenn die Signallampen rot leuchten, dann wird auch dieses Mal nichts passieren. Entsprechend werden nicht alle Probleme zu Problemen.
  • Einfluss von Überzeugungen
    Die Betrachtung einer Situation wird natürlich auch durch die eigenen Überzeugungen und mentalen Erklärungsmuster mitgestaltet. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Menschen ihre eigenen Werte und Schlussfolgerungen mit einer gegenteiligen Einschätzung infrage stellen. Dies führt dazu, dass man die sichtbaren, aber widersprüchlichen Informationen nicht nutzt, um ein Problem aufzuzeigen, nur weil es nicht zur eigenen Weltsicht passt. Der zuverlässige Freund wird ja nicht plötzlich unzuverlässig. Entsprechend werden nicht alle Probleme zu Problemen.
  • Einfluss von sonstigen Filtern
    Unsere Aufmerksamkeit wird von vielen zusätzlichen Filtern beschränkt. So wirken beispielsweise die neuesten Informationen stärker als ältere; oder offensichtliche Argumente sind wichtiger, als nicht so naheliegende; oder negative wirken mehr als positive. Sobald eine Meinung sich gebildet hat, wird es schwer, sie nochmals zu ändern. Das Ganze gipfelt dann in dem, was man allgemein als Vorurteile bezeichnet. Der Techniker ist dann nicht in der Lage den Kunden zu verstehen und dem Verkäufer fehlt das Verständnis für die Technik – was dazu führt, dass deren Bemerkungen nicht berücksichtigt werden. Entsprechend werden nicht alle Probleme zu Problemen.

Fazit: Probleme sind das Ergebnis einer subjektiven Betrachtung von auffälligen Gegebenheiten, die erst dann als heikel angesehen werden, wenn sie die Wahrnehmungsschwelle der Leute überschreiten. Die dafür notwendige Aufmerksamkeit wird beeinflusst von Stereotypen, Stimmungen, Sichten auf die Welt und vielen anderen Filtern. Erst wenn diese Einflussfaktoren überwunden werden und ein Problem zu dem wird, was es ist, erst dann kann man sich um die Lösung des Problems kümmern. Es ist eben nicht immer ein Problem – für Jeden.