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(Un)Wahrheit mit und ohne

Im Anfang war der Unterschied! Zu vorher – was auch immer das war. Seitdem findet Werden statt. In jedem Moment wird die Wirklichkeit weiter fraktalisiert. Ein Ende ist nicht in Sicht. Wir sind Beobachter, die aus der eigenen Box herausschauen, die Reize der Welt aufnehmen und in unserem Kopf verarbeiten. Mit dem Symbol o verbinden wir ein Viereck oder ein Rechteck oder ein Quadrat. Für manche ist es einfach ein unverständliches Etwas. In dem Symbol © sehen manche eine Automarke. Interessierte werden sich wundern. Desinteressierte ignorieren es. Das einzig Wahre ist das Zeichen © an dieser Stelle. Was jemand erklärt, wird zu der Bedeutung – bis sonst wer eine andere Erklärung liefert. Wer hat recht? Beide! Die Bedeutung liegt immer im Auge des Betrachters.

Da sich unser Wissen unentwegt weiterentwickelt, steckt in jeder Erkenntnis bereits ihre Ablösung durch eine neue (Un)Wahrheit, die ebenfalls mehr oder weniger schnell verdrängt wird. Wir ersteigen den Berg der Erkenntnis in der Annahme, dass wir auf einen Gipfel zustreben. Auf dem Weg finden sich die (Un)Wahrheiten in verschiedenen Zuständen: Tatsache, Meinung, Glaube, Irrtum oder Verschwörung.

  • Die (Un)Wahrheit als Tatsache
    Der erwartete Normalzustand eines eingetretenen Sachverhalts ist eine nachweisbare oder allgemein anerkannte Tatsache. Gottlob Frege unterschied Sachverhalte der wirklichen Welt und Gedanken. Die „Realität“ lässt sich mit den vorhandenen Messwerkzeugen am genauesten erfassen. Die Gedanken sind nur mittelbar durch Nachfragen und gefilterte Ausdrücke zugänglich.
    Ende des 16. Jahrhunderts erklärten Wissenschaftler die elektrische Anziehung zu einer Folge des Fluidums, das einen Körper als Dunstwolke umgibt, die andere Stoffe anzieht. Heute sehen wir den Grund in den positiven und negativen Ladungen der Elementarteilchen. Bis die Wissenschaft eine anerkannte Erklärung liefert, fehlt einer Tatsache die Weihe. Ein Beispiel für die Ablehnung sind die morpho­genetischen Felder des Biologen Rupert Sheldrake – obwohl keine andersartigen Beweise geliefert werden. Entsprechend gibt es in der deutschen Wikipedia einen Artikel zu morphischen Feldern, der es noch nicht in die englische geschafft hat. Gedankliche Sachverhalte werden nur durch ihre Stimmigkeit plausibel. Verschiedene Erklärungen machen sie zu Meinungen. Außer: Wir folgen Kellyanne Conway und ziehen den Begriff der Alternativen Fakten in Betracht.
    Der jeweilige Stand der Wissenschaft und der Messgeräte ist die Grundlage für zeitgenössische Wahrheiten, die durch neue Messungen unvermittelt zu Unwahrheiten werden. Der Bereich jenseits der Messbarkeit wird als Metaphysik.
  • Die (Un)Wahrheit als Meinung
    Die Meinung ist ein persönliches Führwahrhalten eines Falls, der sich durch Erklärungen herleiten lässt, auch wenn es keine fassbaren Nachweise gibt. Eine Hypothese bleibt eine Meinung bis zu ihrem „Beweis“. Die obigen morphischen Felder sind ein gutes Beispiel. Ein weiteres ist das Higgs-Boson, dass 1964 formuliert erst 2012 im LHC nachgewiesen wurde.
    Im Gegensatz zur Tatsache, deren Bestand auf mengen- und zahlenmäßigen Auswertungen aufbaut, werden Meinungen geäußert, erklärt und schließlich begründet. Wittgenstein hatte bereits die Aufmerksamkeit auf das Zusammenspiel ausgerichtet (TLP 1.1 „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“). Allerdings bleibt es dem Publikum überlassen eine sich ergebende Meinung zu übernehmen – d.h. sie für richtig zu halten und zu glauben (nicht im religiösen Sinne – siehe den nächsten Punkt).
    Meinungen sind umso ansteckender, desto leichter sie sich wiederholen, weitergeben und in verschiedenen Kontexten anwenden lassen sowie eine lange Lebensdauer haben. Meinungen entfalten die gleiche Wirkungsmacht für die Meinenden wie Tatsachen. Allerdings ist es schwieriger tief liegende Überzeugungen wieder loszuwerden.
  • Die (Un)Wahrheit als Glaube
    Der Glaube überlappt stark mit der Meinung, da beide sich als Lehre in den Köpfen der „Fans“ manifestieren. Diese Überlappung erklärt, warum Meinungen gerne als Esoterik diffamiert werden. In der vorliegenden Beschreibung wird unterschieden zwischen einer Meinung und einem religiösen Glauben – weltlich und spirituell.
    Die Ehrfurcht vor einer Ordnung, die sich nicht erklären oder beweisen lässt, sondern auf einem traditionellen Dogma aufbaut, erzeugt bei den Gläubigen eine Wahrheit, die für „Ungläubige“ nicht nachvollziehbar ist. In den USA glaubten im Jahr 2019 laut Gallup die sogenannten Kreationisten 40% der Bevölkerung, dass Gott den Menschen in seiner jetzigen Form geschaffen hat. 33%, dass sich der Mensch mit Gottes Führung entwickelt hat (i.e. Intelligent Design). Nur 22% glaubten an die Evolution, i.e. dass Gott keinen Anteil an der Entwicklung hatte.
    Im Artikel vier des deutschen Grundgesetzes steht „(1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Das macht den Glauben zu einer persönlichen Einstellung, die nicht diskutierbar (Un)Wahrheiten ergeben sich in der Folge für jede einzelne Person.
  • Die (Un)Wahrheit als Irrtum
    Sobald eine Tatsache oder eine Meinung sich als falsch herausstellt, sprechen wir von einem Irrtum. Die Entscheidung, ob eine Meinung oder ein religiöser Glaube ein Trugschluss ist, muss jeder Mensch für sich treffen.
    Karl Popper formte den Begriff der Falsifikation. Er zeigte, dass sich keine Theorie zu hundert Prozent nachweisen lässt. Die einzige Gewissheit erhalten wir, wenn wir einen Beweis für die Falschheit eines Sachverhalts finden (falsifizieren). Der Aussage Alle Schwäne sind weiß wird durch das Auftreten EINES schwarzen Schwans widerlegt und die ursprüngliche „Wahrheit“ als Unwahrheit erkannt. Denken wir an die Behauptung Die Erde ist eine Scheibe. Bereits die Griechen erkannten die Kugelform. Im 19. Jahrhundert hatte sich der Irrtum verbreitet, dass die mittelalterliche Gesellschaft die Erde als flach angesehen hat, was nicht stimmt. Spätestens mit den Apollomissionen sollten auch die letzten bis auf ein paar Verschwörungstheoretikern, von der „Kugel“ überzeugt sein.
    Vor allem Realisten und Materialisten sind durch Irrtümer gefordert, sobald ihre Weltsicht durch unterschiedliche Disziplinen und widersprüchliche Studienergebnisse infrage gestellt wird. Sichtbar wird diese Verunsicherung an dem zwanghaften Drang, die eigenen Erkenntnisse zu verteidigen und neue Ansätze zu diffamieren selbst ohne eine bessere Erklärung. Auch wenn wir wissen, dass der Irrtum nach Popper das faktischere Pendant der Tatsache ist.
  • Die (Un)Wahrheit als Verschwörungstheorie
    Eine besondere Gattung sind Fake-News oder Verschwörungstheorien, die vorsätzlich in die Welt gesetzt werden, um Menschen durch vorgetäuschte Sachverhalte zu manipulieren. Fatalerweise haben sich diese Begriffe zu einer rhetorischen Killerphrase entwickelt. Passt jemand eine Aussage oder ein Standpunkt nicht, dann werden sie als Fake-News und als Verschwörungstheorie schlecht gemacht.
    Der ehemalige Präsident der USA hat vorgemacht, wie es geht, und die Politiker in aller Welt haben dieses Vorgehen übernommen. Gleichzeitig werden Falschnachrichten penetrant in die Köpfe der unaufmerksamen Zuhörer eingehämmert, bis sie nur noch den Schluss ziehen können, dass diese Sachverhalte wahr sein müssen. Allerdings handelt es sich am Anfang vor allem um bewusstes Lügen, das erst im Verlauf der Zeit zu einer Konspiration werden könnte. Eine Verschwörung braucht Verschwörer, die sich heimlich zusammentun, um von ihnen gewünschte Zustände herbeizuführen, indem sie entsprechende Theorien in die Welt setzen. Hierzu drehen die Aufrührenden den Spieß um und beschuldigen den Gegner, die Bevölkerung durch Magie und Aufstachelung verführen zu wollen. Sie entwickeln Unwahrheiten und betonieren sie durch sogenannte Beweise und andere zweifelhafte Behauptungen in die Köpfe der Opfer ein. Dadurch entsteht ein schwer durchschaubares Denkgebäude, das sich durch eine fatale Stabilität auszeichnet und nur mit Mühen widerlegt werden kann.
    Die Manipulatoren tendieren dazu, prophylaktisch zurückzuschlagen, indem sie Tatsachen, Meinungen und Glaubensrichtungen der Gegenparteien als Verschwörungstheorie verunglimpfen. Dadurch werden Berührungsängste erzeugt und ein Diskurs verunmöglicht. Aus diesem Grund gilt es frühzeitig diese Unwahrheiten sichtbar zu machen und wirksame Gegenmaßnahmen aufzusetzen – die Bedenken der Zielgruppen ernst nehmen; leicht verständliche Argumente mit einfachen Gegenargumenten beantworten; ansprechendere Plattformen als die Aufwiegelnden bereitstellen.

Fazit: Die heutigen (Un)Wahrheiten verbreiten sich mit einem Mausklick rasend schnell in der Welt. Solange wir nicht lernen, mit ihnen umzugehen, erhalten die Propagandisten regen Zulauf. Es ist entscheidend, sich die befristete Gültigkeit einer Tatsache bewusst zu machen und offen zu sein für Neues. Meinungen sind die Vorstufe von Tatsachen, weil sie ein Gedankengebäude bauen, das nur noch nachgewiesen werden muss. Handelt es sich um ein religiöses Bekenntnis, dann müssen wir es tolerieren, da alle ein Recht auf ihre religiöse Überzeugung haben – was Glaubenskriege a priori ausschließen sollte. Sobald wir eine Tatsache falsifizieren, entsteht eine hundertprozentige Wahrheit – dass es eben nicht so ist wie gedacht. Die organisierte Verführung der Öffentlichkeit ist verbunden mit einem Zweck – Machterhalt oder -erwerb. Verschwörungen lassen sich nur schwer auflösen, da deren Anhängende eine quasireligiöse Überzeugung entwickeln. Am Ende verändert sich die Welt unentwegt und erzeugt (Un)Wahrheiten mit und ohne Absicht.