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Eine andauernde Krise wird zum Normalzustand

Am zehnten April 1912 startete die Titanic in Southhampton ihre Jungfernfahrt nach New York. Zu dieser Zeit war es das größte Passagierschiff. Glücklicherweise waren von den zugelassenen 3.300 Passagieren (neben den 900 Mitgliedern der Crew) nur 2.400 an Bord. Bis zur Kollision mit dem Eisberg galt der Dampfer, als das sicherste Schiff seiner Art. Anders gesagt war es weiter entfernt von einer Krise als irgendein anderes Schiff. Nach dem Untergang wurden einige Konstruktionsänderungen ausgeführt, die Zahl der Rettungsboote von den an Bord befindlichen Personen abhängig gemacht und regelmäßige Inspektionen vorgeschrieben. Alle, die auf einem Passagierschiff unterwegs sind, kennen die verpflichtenden Übungen, die innerhalb der ersten 24 Stunden auf See durchgeführt werden müssen. Im Interesse einer schnellen Bergung wurde der Funkverkehr neu geregelt – 24h Radiowache, eine sekundäre Stromversorgung für den Funk, Raketen nur noch für Notfälle zu nutzen. Um Eisberge frühzeitig entdecken zu können, patrouillieren heute Flugzeuge. Die Anstrengungen für den Ernstfall bedeuten allerdings nicht, dass alle Beteiligten sich unentwegt im Seenot-Modus befinden. Solange ein System nicht ausfällt, ist es im Normalbetrieb. Trotz dieser einfachen Wahrheit, verhalten sich in der Firma die Verantwortlichen so, als wären sie fortwährend in der Krise.

Allerdings ist dieser generelle Krisenmodus kontraproduktiv, da die Beteiligten dadurch ohne Ende überlastet werden und sich an diesen Zustand gewöhnen. Um das Momentum einer Krise nutzen zu können, sollte man verschiedene Krisenmodi unterscheiden.

  • Potenzielle Krise
    Dieser Modus ist Teil des Normalbetriebs. Es findet noch keine Krise statt. Allerdings entwickeln die Verantwortlichen die Einsicht, dass Störungen denkbar sind. Meritokratischen Führungskräften fällt es jedoch schwer, in angenommene Themen zu investieren – obwohl sie keine Überraschungen lieben. Für sie wird der Aufwand im besten Fall nur durch vermiedene Schäden ausgeglichen. Alles beginnt mit der Schaffung von Einsicht in die Notwendigkeit. Dabei steht an erster Stelle das unvoreingenommene Beschreiben der Gefahren und Folgen wie die rechtlichen Pflichten, mögliche wirtschaftliche Schäden für das Unternehmen und Nachteile für eine(n) selbst.
    Das etablierte Krisenmanagement ist die Grundlage zur Eindämmung von Störfällen. Dies beinhaltet klare Rollen, Abläufe, verschiedene Szenarien, das regelmäßige Auffinden, Beobachten und Einschätzen von vorstellbaren Krisen.
  • Latente Krise
    Wir befinden uns immer noch im Normalbetrieb erkennen aber die ersten Anzeichen einer Krise. Oberstes Ziel ist das Vermeiden des Eintretens eines Ernstfalls. Hierfür werden die im Vorhinein festgesetzten Maßnahmen zur Vermeidung des Schadens ausgelöst. Je größer der mögliche Schaden und je wahrscheinlicher die Krise, desto aufwendiger sollten die Maßnahmen ausgestaltet sein. Der Vorteil ergibt sich dadurch, dass KEINE größeren Beeinträchtigungen entstehen.
    Zu diesem Zweck werden Frühwarnsensoren und Absicherungen an den erkannten Schwachstellen im Geschäftsmodell, in der Organisation und in der Infrastruktur eingebaut. Kennzahlen weisen die Entscheider auf unerwünschte Veränderungen im Betrieb und im Krisenmanagement hin. Vorbereitend werden zusätzlich anfällige Bausteine gewartet und Übungen für den Fall der Fälle durchgeführt.
  • Akute Krise
    Der Wendepunkt und damit eine Krise ist erreicht, wenn eine Störung den Normalbetrieb verunmöglicht. Jetzt sollte das Krisenteam schnell seine Posten beziehen. Dabei werden die vorbereiteten Notfallpläne abgearbeitet. Die Verantwortlichen kümmern sich nur noch um die Behebung der Zwangslage. Die Mittel werden an die wesentlichen Stellen geleitet. Der Informationsfluss wird sichergestellt und die Stressreaktionen der Beteiligten gemildert.
    Je nach dem Umfang des Vorfalls kann es sich um kurze Engagements von ein paar Stunden oder um sehr lange Einsätze von mehreren Wochen und Monaten handeln. Dabei geht es um das Beheben von Fehlern, das Versorgen von Notfällen und das Durchführen von Maßnahmen zum Überleben. Die Dauer der Krise wird vor allem von angemessenen Vorbereitungen ab.
  • Überstandene Krise
    Die Krise endet mit der Aufhebung des akuten Störfalls. Damit befindet sich die Einheit noch nicht wieder in stabilem Zustand, aber die Behinderungen sind beseitigt. Danach beginnen das Aufräumen, das Wiederherstellen der Arbeitsfähigkeit und das Aufnehmen des regulären Betriebs. Dies erfordert das Sichten der Schäden. Der Wiederaufbau wird geplant. Die benötigten Mittel werden bereitgestellt. Die früheren Entscheidungswege werden reaktiviert. Die persönlichen Stressaspekte und Traumas der Betroffenen werden behandelt. Parallel startet der Rückblick auf die Geschehnisse. In einer After Action Review werden die Vorfälle mit Vertretern aus den beteiligten Bereichen ausgewertet – vor allem die eigentlichen Ursachen.
    Damit beginnt bereits das Vorbereiten auf den nächsten Störfall. Es werden die Erkenntnisse in der Krisenvorbereitung eingebaut und allen bereitgestellt – z.B. den Versicherungen, Aufsichtsbehörden und -gremien sowie der Geschäftsleitung.

Fazit: Das Beschäftigen mit Krisen erfordert mehr als das spontane Entscheiden im akuten Fall. Vor allem ist wichtig, dass alle auf mögliche Krisen vorbereitet sind. Dies erfordert ein gemeinsames Verständnis bezüglich Krisen und der verschiedenen Krisenmodi, die neben dem Normalbetrieb stattfinden – ohne akute Krise. Dabei sollte alle wissen, dass mögliche Krisen weit über das Vorstellungsvermögen der Verantwortlichen hinausgehen – wie wir anschaulich seit Beginn der Coronakrise sehen konnten. Entscheidend ist eine geschickte Einschätzung der Risiken – wie wahrscheinlich und wie gravierend. Die Pflichtübung besteht dann aus dem Erarbeiten eines Notfallplans für alle denkbaren Fälle und Falltypen (z.B. wirtschaftlich, sozial, technisch, rechtlich). In diesem Zusammenhang können nie alle Bedrohungen erkannt und richtig eingeschätzt werden. Um angemessen reagieren zu können, ist eine stimmige Vor- und Nachbereitungen unabdingbar. Die definierten Krisenmodi grenzen den Normalbetrieb von der wirklichen Krise ab. Vor allem sollte das Bewusstsein der Führung für mögliche Störfälle geweckt werden und mit konkreten Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung verbunden sein. Die jährliche Übung hält die Beteiligten fit für die Fälle, die dadurch vermieden werden sollen. Ein Schrecken ohne Ende ist für die Vorbereitung verheerend, da sie Krisen zum Normalzustand macht. Dadurch gehen die Dringlichkeit und der Schwung zum Beheben in der Organisation verloren.

Mehrere Entscheidende erzeugen immer Kompromisse

Die Pandemie hat besonders die erstarrten Abläufe der Angestellten in Bewegung versetzt. Es gibt schon lange neue Ansätze für die Zusammenarbeit – z.B. schlankere Strukturen; Bündelung von Aufgabe; Kompetenz und Verantwortung (AKV) in einer Hand; Auflösung langatmiger Bürokratie; mobiles Arbeiten. Damit erhalten die Mitarbeitenden mehr Rechte und Pflichten. Führungskräfte verlieren ihre Raison d’Être: das Entscheiden, Führung und Kontrollieren. Ein Beschluss wird am Ort des Geschehens durch die Beteiligten gefällt. Und trotzdem gibt es weiterhin eine übergreifende Stelle, die im Zweifel entscheidet.

Heutzutage sind verschiedene Bereiche an einer Entscheidung beteiligt, die alle ihre Absichten verfolgen. Dadurch werden die folgenden Aspekte bemerkenswert.

  • Das Mindset der Subsidiarität
    Um umständliche Wege der Entscheidung aufzulösen, muss der passende Ort gefunden werden. Die katholische Kirche hat 1931 eine Blaupause dafür formuliert. Das Subsidiaritätsprinzip in der Enzyklika von Papst Pius XI. zum Umbau der sozialen Ordnung beschreibt die Arbeitsteilung wie folgt:
    Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führen müssten, soll die Staatsgewalt den kleineren Gemeinwesen überlassen. Sie selbst steht dadurch nur umso freier, stärker und schlagfertiger da für diejenigen Aufgaben, die in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, weil sie allein ihnen gewachsen ist: durch Leitung, Überwachung, Nachdruck und Zügelung, je nach Umständen und Erfordernis. Darum mögen die staatlichen Machthaber sich überzeugt halten: je besser durch strenge Beobachtung des Prinzips der Subsidiarität eine abgestufte Ordnung zwischen den Verbänden eingehalten wird, desto stärker werden die gesellschaftliche Befugnis und Wirksamkeit, umso besser und glücklicher ist es um den Staat bestellt.“
    Die heutige VUKA-Welt kann diesen Ansatz nutzen, um das Momentum und das Engagement der Mitarbeitenden zu erhalten. Wenn ein Beschluss auf der eigenen Ebene nicht möglich ist, entscheidet die übergreifende, allgemein anerkannte Autorität.
  • Klare Rollen
    Das fortwährende Zerlegen in kleinere Teile führt zu temporären Netzwerken, die die starren Hierarchien und ausgrenzenden Silos ablösen. Es sind klare Rollen nötig, die die Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung (AKV) der Beteiligten beschreiben.
    Aufgrund der Schnelllebigkeit der Umstände ersetzen Rollen die kleinteiligen Beschreibungen der einzelnen Stellen. Die Beteiligten brauchen möglichst allgemeine Anforderungen für ihr Tun mit ausreichendem Spielraum für unvorhersehbare Sachverhalte.
  • Kompromisse
    Die fachlichen Aufgaben führen zu unterschiedlichen Interessen, Absichten und Zwängen. Nur das gemeinsame Aushandeln einer Entscheidung durch die Betroffenen führt zu einem machbaren und von allen akzeptierten Ergebnis. Die sofortige Delegierung nach oben liefert zwar einen Beschluss. Allerdings führt er zu Missmut ALLER Beteiligten: a) weil sie nicht an der Entscheidung beteiligt sind; b) weil für sie wesentliche Aspekte unberücksichtigt bleiben. Am Ende müssen alle Parteien Zugeständnisse machen und auf manche Wünsche verzichten, um zu einem Ergebnis zu gelangen.
    Die Dauer für das Finden eines Kompromisses hängt von der Dauerhaftigkeit der Lösung ab – je länger, desto aufwendiger die Verhandlung. Die abschließende Bereitschaft und das entschiedene Commitment der Beteiligten ist Grundlage für die Viabilität des Übereinkommens.
  • Kontinuierliche Verbesserung
    Ein großer Feind von kreativen Lösungen ist die Vorannahme, dass die VUKA-Welt sich nach einer Entscheidung nicht mehr weiterdreht. Jede Lösung hat mehr oder weniger anhaltende Veränderungen zur Folge – der Bau von Autobahnen verändert die Landschaft langfristig; die Vereinbarung eines gemeinsamen Vorgehens kann jederzeit angepasst werden.
    In VUKA-Zeiten lernen wir unentwegt, was geht und was nicht. Das kann dazu führen, dass etwas rückgängig gemacht oder wieder verändert werden muss. Mit der einvernehmlichen japanischen Philosophie des Kaizen (改善), stehen Ansätze zur Verfügung, etwas besser zu machen, ohne frühere Lösungen zu verunglimpfen und um Gesichtsverlust zu vermeiden.
  • Folgen für Entscheidende
    Die bisherigen Punkte ergeben ein Mindset, das die Beteiligten in die Lage versetzt, Kompromisse einzugehen. Das bisherige Verhandlungsgeschick wird dabei erweitert um die Fähigkeiten, sich in Andere hineinzuversetzen, deren Absichten und Bereitschaft zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren, um Win-Win-Ergebnisse zu erzielen.
    In der VUKA-Welt ist wenig von Dauer. Aus diesem Grund sollten die Parteien weniger auf eigenen Wünschen beharren. Mit Empathie und einer klaren Priorisierung der eigenen Wünsche erreichen sie viablere Ergebnisse.
  • Highlander-Prinzip
    Finden die Parteien nicht zueinander, dann braucht eine Entscheidung die Hintertür der übergeordneten Ebene. Hier gilt dann das archaische Highlander-Prinzip: Es kann nur Einen geben. Solange es mehrere ebenbürtige Verhandelnde gibt, läuft es auf einen Interessenskonflikt hinaus, der nur mit Kompromissen behoben werden kann.
    In der VUKA-Welt führen solche Beschlüsse zu einer erhöhten Gefahr eines Fehlschlags. Wenn die Betroffenen zu wenig eingebunden sind, dann braucht es zumindest das Commitment für Top-Down-Entscheidungen.

Fazit: Es ist nicht möglich, alle Betroffenen mit einem Beschluss zufriedenzustellen. Aufgrund der unterschiedlichen Absichten sind mehr oder weniger große Abstriche nötig, um ein Ergebnis zu erhalten. Mit der Nutzung des Subsidiaritätsprinzips und klaren Rollen werden die Zuständigkeiten und der Aktionsradius umrissen. Werden Kompromisse von den Beteiligten erwartet, fällt es ihnen leichter, eine Einigung zu finden. Im Anschluss ist es immer möglich nachzubessern. Für die Entscheidenden ist es wichtig, ein entsprechendes Mindset zu entwickeln, um nicht auf Anforderungen zu beharren und bei anderen nachgeben zu können. Kommt es zu keinem Ergebnis, bleibt immer die Möglichkeit EINZELNE Entscheidende nach dem Highlander-Prinzip zu nutzen. ALLE sollten verstehen, dass mehrere Entscheidende IMMER Kompromisse erzeugen.