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Der gestalterische Mehrwert

Leute berichten eine Geschichte über Pablo Picasso aus seiner Pariser Zeit. Als er in einem Restaurant speiste, bat ihn eine Frau um eine Skizze. Als Gegenleistung konnte er einen beliebigen Preis festlegen und sie würde bezahlen. Picasso skizzierte etwas auf einer Serviette, signierte und sagte „Das macht 10.000$“. Überrascht zog die Frau die Augenbrauen hoch: „Aber es hat doch nur dreißig Sekunden gedauert.“. „Nein“ antwortete Picasso, „es hat mich vierzig Jahre gekostet.“ Das ist der gestalterische Mehrwert, der sich erst über die Zeit entwickelt und der meistens ignoriert wird, wenn ein Ergebnis bewertet wird.

Passiert Dir das nicht auch jeden Tag beim Arbeiten. Auf der einen Seite möchten Arbeitgebende ihre humanen Ressourcen mit all ihren Fähigkeiten einsetzen. Auf der anderen Seite wünschen sich die Mitarbeitenden angemessen honoriert zu werden. Da eine Stelle in aller Regel aus personenunabhängigen Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten besteht, werden die dafür notwendigen Fähigkeiten als selbstverständlich vorausgesetzt, wenn sie überhaupt beachtet werden. Wie können wir das tatsächliche Wissen, die bestehenden Fertigkeiten und gemachten Erfahrungen berücksichtigen?

  • Erkennen
    Mit einem mechanistischen Weltbild gehen die Beteiligten davon aus, dass die Kenntnisse und Fähigkeiten in Form von Zeugnissen beschrieben vorliegen. Diese Schnappschüsse sagen jedoch nichts über die abrufbaren Möglichkeiten aus. Das erworbene Wissen verliert seinen Wert durch den beschleunigten Fortschritt immer schneller – das beginnt bei der neuesten Version von MS Office und geht über die internen DIY-Buchungssysteme bis hin zu völlig neuen Anwendungen, die langjährige Praktiken ersetzen. Bestimmte Befähigungen wie z.B. Kooperations-, Führungs- und Veränderungskompetenzen sowie mehrjährige Berufspraxis können nur mittelbar gemessen werden und erfordern ein besonderes Gespür, um diese zusätzlichen Beiträge zu erkennen. Das agile Unternehmen wird die bestehenden Beschreibungen der Stellen in naher Zukunft durch Profile der Projekte und Personen ablösen. In jedem Fall sollten die Mitarbeitenden sich regelmäßig ihre aktuellen Möglichkeiten bewusst machen und in ihren Tätigkeiten verwenden. Die Führenden haben die Pflicht, diese vorhandenen Mittel zu fördern und dem Unternehmen nutzbar zu machen. Die Grundlage für den Abgleich der Leute und er Aufgaben bieten Skillprofile.
  • Einsetzen
    Einzelpersonen setzen ihr volles Spektrum an Fähigkeiten unbewusst ein. Dadurch vergessen sie den obigen Picasso-Effekt für sich zu verwerten. Dafür sollte der geleistete gestalterische Mehrwert als Zusatzbeitrag in die persönliche Beurteilung einlaufen oder sogar die Beschreibungen eines Arbeitsplatzes aufgewertet werden. Es passt nicht zu der Leistungsorientierung, den High-Performern genauso wenig zu bezahlen wie den Low-Performern. Der Einsatz in einem Unternehmen erfordert neben dem Erkennen des Mehrwerts die Förderung und die geschickte Allokation der zusätzlichen Fähigkeiten. Da immer mehr Aufgaben projekthaft durchgeführt werden, sind allgemeine Fähigkeitsprofile erforderlich. Sie werden eingesetzt, um die Rollen einer Aufgabe zu profilieren sowie um die Leute zu beschreiben. Durch einen Abgleich z.B. mit einer HCM-Software, können die passendsten Persönlichkeiten einer Aufgabe zugeordnet werden. Die langfristig nutzbaren Profile der Mitarbeitenden, die erweiterbar sind, und die bedarfsorientierten Projektprofile werden mittelfristig die aufwendigen Beschreibungen der Stellen ablösen.
  • Honorieren
    Wenn verschiedene Personen eine Aufgabe durchführen, unterscheiden sie sich aufgrund des Ausführungszeitraums (Start/ Ende und der aufgewendeten Zeit), des Engagements sowie der Qualität und den erzeugten Ergebnissen. Einfache Tätigkeiten, wie das Schreiben eines Berichts, kann eine Person wenige Tage und eine andere Wochen beschäftigen. Im ersten Fall wird eine druckfertige und im anderen eine zu überarbeitende Version geliefert. Am Ende erzeugt die erste Person viel mehr Ergebnisse als die andere – bei gleicher Entlohnung. Sobald die Tüchtigen dies bemerken, werden sie ihren Arbeitsrhythmus an die Schlechtesten anpassen. Außer: Sie werden für die bessere Leistung honoriert.
  • Integrieren
    Die Anforderungen sollten sich nicht nur aus einer fachlichen Materie ableiten, sondern auch aus den zusätzlichen Kenntnissen – z.B. funktionsübergreifendes Wissen rund um das Geschäft, das gegenseitige Verständnis sowie die Koordination und Führung unterschiedlicher Persönlichkeiten. Die Beherrschung der neuen VUKA-Welt mithilfe von holistischem und kritischem Denken sowie einer wirkungsvollen Veränderungskompetenz vervollständigen den gestalterischen Mehrwert. Da sich die Anforderungen stetig ändern, müssen die Profile in der Lage sein, die neuesten Fähigkeiten zeitnah einzubauen. Im Personalbereich reicht es nicht mehr, ein Template für die Beschreibung der Stelle vorzuhalten. Es müssen die sich ändernden Skillprofile unternehmensbezogen erarbeitet und für alle Beteiligten verfügbar gemacht werden.

Fazit: Da die lebenslange Beschäftigung von Unternehmen zugunsten von Outsourcing und temporären Beschäftigungen aufgelöst werden, müssen auch die Bewerbenden sich auf den neuen Hire-and-Fire-Modus einstellen und sich mit ihrem Mehrwert geschickter verkaufen. Im Geiste von Picasso wird es nicht mehr reichen, sich die Dauer einer Leistung bezahlen zu lassen, sondern auch die weichen Zusatzbausteine, die über die erbrachten technischen Examen weit hinausgehen, in die Berechnung mit einzubeziehen. Dies gilt gleichermaßen für die Fach-, Methoden-, Sozial- und Systemkompetenzen. So wie die Unternehmen nach Angebot und Nachfrage ihre Bezahlung ausrichten, müssen dies auch die „Anbietenden“ machen. Im besten Fall werden Unternehmen einsehen, dass sie mit diesem Bieterkampf langfristig draufzahlen, da billige Arbeitskräfte entsprechende Leistungen erbringen, die langfristig der Reputation schaden. Damit die Fähigkeiten beachtet werden können, müssen alle Beteiligten diese erkennen, einsetzen, honorieren und ins Tagesgeschäft einbauen. Es ist vor allem der gestalterische Mehrwert, der sich aus anhaltender Routine, praktischen Erfahrungen und der Leidenschaft der Mitarbeitenden ergibt, der den Unterschied macht und bei der Bewertung berücksichtigt werden muss. Wer diese Sicht auf den gestalterischen Mehrwert nicht beherrscht, wird kurz- bis mittelfristig scheitern.

Was ich nicht weiß, macht mich heiß

Peter Drucker hat darauf hingewiesen, dass man nur das steuern kann, was man misst. Heute überrollen uns die Zahlen, Daten und Fakten. Jährlich werden über 3,7 Millionen Patente angemeldet – viele im Bereich Digitalisierung und Medizin. Gleichzeitig erreichen uns nicht alle Informationen, entweder weil sie nicht erhoben, publiziert oder sogar zurückgehalten werden. Die unzähligen Betrachtungen liefern unterschiedliche Tatsachen, was dazu führt, dass es uns überlassen bleibt, was wir glauben. Da es stets berechtigte Zweifel an den Daten gibt, nutzt die scheinbare Freiheit der Meinungsäußerung nichts. Verschärfend werden nicht nur eigene Meinungen kundgetan, sondern bewusst andere Standpunkte aktiv verfälscht und diffamiert.  Zu viele nutzen die Medien zur gezielten Manipulation der Massen. Wir müssen lernen, mit der verunsichernden Reizüberflutung umzugehen, die eigene Filterblase zu verlassen und uns für andere Standpunkte zu interessieren. Es ist nicht geschickt, die Augen zu verschließen: Was ich nicht weiß, sollte mich heiß machen.

Unsere menschliche Datenverarbeitung ist genetisch auf jagen und sammeln eingestellt. Wir sind darauf programmiert instinktiv Gefahren zu erkennen, wie giftige Pflanzen, gefährliche Tiere und Orte. Auf die heutigen Gefahren, die einfachen Mechanismen der Beeinflussung, sind wir nicht vorbereitet: z.B. gesagt gilt als getan; Wiederholungen scheinen Aussagen zu bestätigen; Emotionen, vor allem Ängste, verankern langfristiger; unvollständige Alternativen beschränken die Wirklichkeit auf sich. Da der Umgang mit der heutigen, virtuellen Welt nicht in die Wiege gelegt ist, müssen wir auf absehbare Zeit lernen, damit umzugehen. In diesem Beitrag geht es um die erste Hürde auf dem Weg, raus aus der Opferrolle: die Bedingungen der visuellen Wahrnehmung.

  • Man sieht nur, wenn man hinschaut
    Die Augen sitzen auf der Vorderseite unseres Kopfes. Damit fällt der Blick in die Richtung, in die wir uns bewegen oder der wir unseren Kopf zuwenden. Den Großteil der 214° unseres Gesichtsfelds sehen wir unscharf. Der Bereich, indem wir scharf sehen, beträgt nur 1,5°. Alles, was außerhalb des Gesichtsfelds ist, sehen wir nicht. Damit uns trotzdem nichts entgeht, bewegen sich unsere Augen unbemerkt über die Szenerie, i.e. die Wirklichkeit oder über Bilder. Für den unsichtbaren Teil haben wir einen zusätzlichen Kanal, die Ohren, die unsere Aufmerksamkeit wecken, damit wir unseren Blick in die entsprechende Richtung lenken.
    Ohne hinzuschauen, sehen wir nichts.
  • Man sieht nur, wenn man findet
    Da die Masse der Daten, die unsere Augen erreichen unscharf sind, ist es unbedingt erforderlich, dass etwas so viel Aufmerksamkeit erregt, dass wir darauf scharf stellen. Interesse wecken Kontraste, Abweichungen, aber auch Gleichförmigkeit (z.B. wenn wir Abweichungen erwarten). Kontraste entstehen, wenn Komplementärfarben, Farbsättigungen und unterschiedliche Helligkeiten nebeneinander auftreten. Das gilt auch für Linien und Formen, die ein bestimmtes Muster durchbrechen. Diese Abweichungen können statisch oder dynamisch im Blickfeld auftauchen. Neben diesen spontanen Auslösern finden wir etwas, weil wir es bewusst suchen, z.B. ein bestimmtes Haus in der Skyline. Wir finden jedoch nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst. Beim Überfliegen eines Textes werden beispielsweise bestimmte Schlüsselworte nicht sofort verarbeitet, sondern wir fühlen erst nach dem Weiterblättern, dass wir etwas Interessantes gesehen haben und blättern zurück, um bewusst danach zu suchen. Diese unbewusst gefundenen Eindrücke bleiben auch über längere Zeit verfügbar, sind aber nur schwer aktivierbar.
    Ohne zu finden, sehen wir nichts.
  • Man sieht nur, was man erkennt
    Ein gutes Beispiel für das Erkennen sind abstrakte Bilder, wie das berühmte Bild Viereck von Malewitsch aus dem Jahr 1915, auf dem ein schwarzes Viereck vor einem weißen Hintergrund zu sehen ist. Manche werden die Erklärung kennen und andere sehen einfach ein schwarzes Viereck. Es verbleibt in unserem Gedächtnis nur das, was wir in dem Bild erkennen, daraus ableiten und als Erinnerung mitnehmen. Das gilt für moderne Kunst, für das Geschäftsleben und das Privatleben. Wir merken uns, bewusst oder unbewusst, nur die Sachverhalte, die wir wiedererkennen oder die wir einer bestimmten Kategorie zuordnen können. Der Karnevalsumzug und die Prozession der tausend Krieger in Japan können nur unterschieden werden, wenn wir sie entsprechend einordnen können – alle anderen sehen nichts weiter als eine große Gruppe von Menschen, die in auffälliger Maskerade unterwegs sind.
    Ohne zu erkennen, sehen wir nichts.
  • Man sieht nur, wenn man die Perspektive wechselt
    Der visuelle Eindruck steht immer im Wettbewerb mit dem nächsten. Fahren wir mit einem Sightseeingbus durch Paris, dann drehen wir unentwegt unseren Kopf, da sich überall Sehenswürdigkeiten finden. Und beim verlängerten Betrachten des Eiffelturms entgeht uns schnell das Seine-Panorama oder der Trocadero. Erst wenn wir unseren Blick von einer Aussicht lösen, haben wir die Chance, etwas anderes zu sehen. Bei einer Reise verpasst man so schnell viele Besonderheiten. Entsprechend erzeugt der Verbleib in immer der gleichen Echokammer, nur die Bestätigung dessen, was wir bereits wissen. Nur wenn man die Filterblase verlässt, hat man die Chance etwas Neues zu lernen – auch wenn man Gefahr läuft, dass das eigene Weltbild dadurch zerstört wird.
    Ohne die Perspektive zu wechseln, sehen wir nichts.

Fazit: Die Probleme der Meinungsbildung beginnen bereits mit der visuellen Wahrnehmung, die unser Weltbild filtert, bevor wir in die Gefilde der gefälschten Nachrichten geraten. Das Sehen ist einerseits nicht auf die Reizüberflutung eingestellt, der wir heute ausgesetzt sind. Andererseits bietet das Gesehene keine umfassenden Eindrücke des Geschehens, da wir immer nur einen Ausschnitt wahrnehmen. Würden wir alles aufnehmen können, was unseren Augen dargeboten ist, würden wir durchdrehen und lebensunfähig. Aus diesem Grund sollten wir ein bewusstes Verhältnis zu unserer Wahrnehmung entwickeln: Wir sehen nur, wenn wir hinschauen und finden und erkennen, bis wir die Perspektive wechseln. Je mehr Leute eine Situation beobachten, desto mehr Beschreibungen erhalten wir – mit übereinstimmenden, zusätzlichen und widersprüchlichen Erkenntnissen. Trotz der Schwierigkeiten der unterschiedlichen Aussagen, sollten stets alle Eindrücke gesammelt und berücksichtigt werden, da man dadurch ein umfassenderes Gesamtbild erhält. Entsprechend sollte in Abwandelung des alten Spruchs gelten: Was ich nicht weiß, macht mich heiß.