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Wir erkennen nur, was wir erkennen

Für alle, die Chinesisch, Kyrillisch, Thailändisch, Arabisch oder Keilschrift und Hieroglyphen nicht beherrschen, handelt es sich bei fremdsprachigen Schriftstücken um eine Ansammlung von Linien und Formen, die möglicherweise etwas bedeuten, aber ihren Inhalt nicht preisgeben. Bisher sind nur Schriften bekannt, die ca. sechstausend Jahre alt sind. Zwischenzeitlich hat Genevieve von Petzinger zweiunddreißig Zeichen in Steinzeithöhlen überall auf der Welt gefunden. Zweiunddreißig insgesamt. Und wir erkennen das, was wir immer erkennen (s. Abbildung). Das Besondere dieser Zeichen ist die Tatsache, dass es sich immer wieder um die gleichen Zeichen handelt, die vor bis zu vierzigtausend Jahren in jedem Winkel der Welt ‚aufgeschrieben‘ wurden. Und wir haben keine Chance herauszufinden, was sie bedeuten.

Wir finden in den Schriftarten unserer Computer immer noch diese Zeichen (×, Ο, ↑, ∇, #, ∼, ♥, ω, —). Da wir nur das erkennen, was wir erkennen, schauen wir mal hin, was es zu sehen gibt.

  • Linien
    Es finden sich gerade, abgerundete und gezackte, mal durchgezogene und mal punktierte Linien. Vielleicht steckt in unserer heutigen Wahrnehmung noch das Erbe dieser Höhlen-Graffiti – waagerecht vermittelt eine Linie Ruhe; senkrecht erweckt die Linie Dynamik; geknickte Linien wirken energiegeladen; gebogene Linien übertragen Spannung; Wellenlinien deuten auf Schlangen hin oder Wasser. Aus Linien werden im folgenden Formen und Zeichen erzeugt.
  • Formen
    Man erkennt Grundformen, die uns geläufig sind – Kreis, Rechteck und Dreieck. Der Kreis wirkt ausgeglichen ohne Anfang und Ende. Das Rechteck vermittelt einen stabilen Eindruck. Es schafft klare Grenzen und Ordnung. Das Dreieck steht auf seiner Spitze und suggeriert Dynamik und weist vielleicht auf Weiblichkeit hin.
  • Zeichen
    Einige scheinen Zeichen für etwas zu sein – Doppelkreuz, liegendes Klammerzeichen, Doppelpfeil, positive und negative Hände, Herz, Hashtag, Spirale, usw. Was diese Symbole repräsentierten, werden wir nie erfahren. So könnten die Hände beispielsweise eine Art Unterschrift sein oder Ich-war-hier. Könnte die herzförmige Form ein Herz darstellen oder ist das unwahrscheinlich? Mich interessiert, wofür das Hashtag (#) stehen könnte.
  • Kontext
    Am klarsten scheint der Kontext zu sein – eine Höhle. Aber warum hier? Im Dunkeln. Es sind die Steinzeithöhlen, in denen sich die Forschung bisher mit den abgebildeten Tieren, Menschen und Alltagsszenen beschäftigte. Hier finden sich am Rand und in den Zugängen immer wieder diese Zeichen. Überraschend ist die Tatsache, dass es nur zweiunddreißig sind, die auf der ganzen Welt genutzt wurden – genau genommen seit vierzigtausend Jahren bis heute. Die Tatsache, dass sie im Umfeld der Wandmalereien gefunden wurden, spricht dafür, dass sie in diesem Kontext einen besonderen Zweck erfüllten.
  • Ohne Bedeutung
    Diese Zeichen könnten Alles und Nichts bedeuten. Vielleicht handelt es sich um kollaterale Flecken, die bei der Durchführung eines Rituals übrig geblieben sind. Andererseits könnte es sich um abstrakte Abbildungen von mentalen Bildern oder theoretischen Konzepten handeln. Oder um die vereinfachte Darstellung der damaligen Fauna und Flora. Spannend wäre es festzustellen, ob es sich bei den Abbildungen, um Kunstwerke handelt, die über eine lange Zeit aufgefrischt oder erneuert wurden, so wie es die Aborigines in Australien bis heute praktizieren.

Fazit: Es ist Genevieve von Petzinger zu danken, dass wir heute nicht nur auf diese Linien, Formen und Zeichen von vor bis zu vierzigtausend Jahren aufmerksam wurden, sondern dass sie auch die Ähnlichkeiten zwischen den weltweit verstreuten Höhlenzeichen erkannte und strukturiert aufbereitet hat. Ich frage mich, ob diese Grundformen, die heute noch von uns genutzt werden, ihre Bedeutung über die Jahrtausende gerettet haben. Wir können nur spekulieren, denn: Wir erkennen nur, was wir erkennen – die ursprüngliche Bedeutung haben die Künstler vor vielen Jahrtausenden mit ins Grab genommen.