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Schein bar Inhalt

Mit fortschreitender Virtualisierung bekommen die Qualitäten von Dingen, Sachverhalten und vor allem Personen immer mehr Gewicht. Die Auswahl der neuen Mitarbeiter, egal ob ausführend oder führend, wird dabei immer schwieriger. Im Vorhinein ist es nur eingeschränkt möglich einzuschätzen, ob die jeweilige Person ins Unternehmen, ins Team oder zu einer Aufgabe passt. Wenn dann noch die erste Auswahl durch einen Bereich erfolgt, der von der fachlichen Aufgabe wenig Ahnung hat, werden Entscheidungen auf Basis von formalen Kriterien getroffen, die mit dem tatsächlichen Geschäft wenig zu tun haben. Auf lange Sicht ist es effektiver, die Auswahl den Abteilungen zu überlassen, die die Erfahrung haben, die verschiedenen Kontexte kennen und sich vor allem ihre persönlichen Eindrücke von dem möglichen neuen Mitarbeiter machen sollen. Wer glaubt noch an die kopierten Lebensläufe aus den einschlägigen Kochbüchern, die aus schnellen Abschlüssen plus langjähriger Praxis- und Auslandserfahrung plus ausgeprägtem Sozialengagement bestehen? Diese Selbstinszenierungen schaffen einen Schein bar Inhalt.

Dieser scheinbare Glamour muss nicht künstlich Ecken und Kanten wegschleifen. Manchmal ist es besser Profil zu zeigen, sich bei der Arbeit schmutzig zu machen, um anhand der Narben des eigenen Tuns glaubwürdiger rüberzukommen.

  • Persönlicher Schein
    Mit der Einführung des Schul- und Universitätssystems wurden die althergebrachten Lernstile, die langjährige Lehre als Lehrling und Geselle, um das wissenschaftliche Studium und die Forschung erweitert. Die eigentlichen Ziele dieser Lernsysteme war die Vermittlung und Verankerung von Wissen. Das wichtigste Bestreben war dabei, den Themen aktiv auf den Grund zu gehen. Durch die steigende Bedeutung einer sachlichen Bewertung haben sich die Schwerpunkte bei der Bewertung verschoben. Eine hohe Punktzahl suggeriert entsprechende Fähigkeiten. Dabei genügt eine geschickte Strategie und etwas Glück bei den Tests, um zu bestehen. Und das, obwohl praktische Kenntnisse für die alltäglichen Herausforderungen besser wären.
    Der persönliche Schein wird durch Misserfolge und echte Verantwortung ohne gigantisches Budget besser aufpoliert, als durch großspuriges Auftreten.
  • Unternehmerischer Schein
    In den anderen Bereichen des Geschäfts dienen auch Zertifizierungen zum Nachweis von Leistungsfähigkeit. Mit entsprechenden Bescheinigungen sollen Kunden Vertrauen schöpfen, um sich für das entsprechende Angebot zu entscheiden. Diese Nachweise reichen heute von Kundenbewertungen, den sogenannten Likes, bis zu den offiziellen Zertifizierungen und Rahmenwerken, wie ISO 9000 für das Qualitätsmanagement, ISO 27001 für die Informationssicherheit oder COBIT für die IT-Governance.
    Während diese Zertifizierungen ursprünglich den aktuellen Stand eines Unternehmens widerspiegeln sollten, haben die Betroffenen gelernt, sich auf diese Prüfungen so vorzubereiten, dass sie sie möglichst bestehen. Der eigentliche Zweck einer neutralen Einschätzung der wirklichen Fähigkeiten geht dadurch verloren.
    Es wird immer wichtiger, mit realen Beispielen zu beweisen, dass man sein Geschäft praktisch meistern kann und nicht nur mit einem Zertifikat zu glänzen, das jeder hat.
  • Geliehener Schein
    Fehlen direkte Belege der Reputation, dann bleiben nur noch mittelbare Hinweise, die vor allem durch vieldeutige Aussagen erzeugt werden. Dies erreichen die Protagonisten am einfachsten durch die Erwähnung und Zitierung kompetenter Quellen. Aus diesem Grund schmücken sich Personen und Firmen gerne mit den Bonmots prominenter Vordenker. Damit suggerieren sie die entsprechende Geisteshaltung, die die unaufmerksamen Zielgruppen glauben lässt, dass die beschriebenen Werte für sie von Bedeutung sind. Das Ganze lässt sich steigern, wenn man die besagten Koryphäen persönlich einbindet oder zumindest bildwirksam trifft. Bei der besagten Zielgruppe wird die Annahme ausgelöst, dass man über besondere Fähigkeiten verfügen muss. Bei genauerem Hinsehen findet diese Art der mittelbaren Inanspruchnahme von Fremdschein alltäglich in Veröffentlichungen statt, ohne dass die Zielgruppe die Manipulation bemerkt. Dieses sich Schmücken mit fremden Federn braucht nichts weiter als ein ausreichend großes Budget.
    Wenn man aus den Erfahrungen Anderer seine Vorteile ziehen will, dann sollte man sie ernsthaft im Alltag einbinden und ihre Ideen konsequent umsetzen und nicht nur medienwirksam Hände schütteln.

Unabhängig von der Art, wie die Reputation aufgebaut wird, bleibt sie nichts weiter, als ein Indikator. Die tatsächliche Leistungsfähigkeit zeigt sich erst in der alltäglichen Praxis. Da es nicht möglich ist, sie im Voraus zu sehen, müssen sich Beobachter immer der Gefahr bewusst sein, dass sie möglicherweise nur von einem Schein angezogen werden. Andererseits dürfen sich die Personen und Unternehmen nicht auf ihrem Renommee ausruhen, sondern müssen es jeden Tag neu beweisen. Wer sich im Wettbewerb befindet, ist wie jemand, der gegen den Strom rudert. Sobald man aufhört zu rudern, fällt man zurück. Reputation muss ohne Unterlass erneuert werden.

Fazit: Es wird immer wichtiger, neue Ansätze zu finden, um die Leistungsfähigkeit sowie deren Entwicklungspotenziale im Vorhinein erkennen zu können. Die direkte Zertifizierung ist dafür nur eingeschränkt tauglich, da die Prüflinge sich im Vorhinein opportunistisch auf das Bestehen einer Prüfung vorbereiten – nicht auf die Erlangung von Wissen. Die mittelbaren Indikatoren generieren zwar Indizien, lassen aber keinen wirklichen Rückschluss auf das Know-how und Verhaltensrepertoire der Betroffenen zu. Die Informationsgesellschaft braucht neue Vorgehen, um den Schein bar Inhalt erkennen zu können.

Vorteile der Bescheidenheit

Zurückhaltung (遠慮) ist im Laufe der Jahrhunderte zu einer zentralen Eigenschaft der japanischen Kultur geworden. Die damit verbundene, scheinbare Unverbindlichkeit, die im Westen als zugeknöpft wahrgenommen wird, hat den Zweck die Anderen nicht in Verlegenheit zu bringen. Dies geschieht, indem man in formalen Sitzungen mit mehreren Teilnehmern selten die eigene Meinung direkt ausdrückt. Botschaften werden eher indirekt, ohne Worte und vage, kundgetan. Im Gegensatz zu der westlichen „Der Gewinner bekommt alles“-Mentalität, in der es stets nur einen Gewinner gibt, bietet die Bescheidenheit allen Beteiligten die Möglichkeit ihr Gesicht zu wahren. In den letzten siebzig Jahren hat das nicht verhindert, dass Japan trotz allem zu einer wirtschaftlichen Weltmacht geworden ist.

Welche Vorteile könnte man auch im Westen ausschöpfen?

  • Mehr Sein als Schein
    Viele Ergebnisse sind gar nicht so schlecht, wie es auf den ersten Eindruck scheint. Da jedoch die Beteiligten in ihrer Kommunikation dazu tendieren zu hohe Erwartungen aufzubauen und, selbst bei am Ende bescheidenen Ergebnissen, oft Superlative nutzen, ist es schwierig, eine realistische Bewertung zu erhalten. Darüber hinaus bleibt kein Spielraum mehr zur Bewertung von echten Spitzenergebnissen. Das führt dazu, dass die Protagonisten auch hohe Ansprüche an sich selbst haben – ich kann alles. Gleichzeitig werden die Erwartungen der Anderen in illusorische Höhen getrieben. Derartig hohe Erwartungen lassen sich nicht mehr erfüllen.
    Mit der entsprechenden Bescheidenheit würden Ziele so smart vereinbart, dass sie auch wirklich erreicht werden. Um mehr Sein als Schein zu praktizieren, sollte man Superlative, wie z.B. beste, schnellste, sicherste, zuverlässigste oder günstigste, nur in Ausnahmefällen nutzen.
  • Lieber Daedalus als Ikarus
    Ikarus ist das klassische Beispiel von Hybris. Diese extreme Form des Hochmuts und der Überheblichkeit erzeugt unrealistische Strategien. Ikarus hat das mit dem Leben bezahlt. Solange der Einzelne jedoch seine Fehleinschätzung überlebt, wird er immer riskantere Unternehmungen planen. Und wenn der Moment der Wahrheit gekommen ist, dann verlässt der Verantwortliche den Ort des Geschehens, nimmt seine Hybris mit und dreht beim nächsten Mal ein noch größeres Rad. Der entstehende, kollaterale Schaden zerstört die Referenzpunkte in dem jeweiligen Bereich. Die Mitarbeiter werden angesteckt und verfallen ebenfalls einem überheblichen Übermut.
    Mit der entsprechenden Bescheidenheit würde die selbstgefällige Hybris auf ein gesundes Maß beschränkt. Dafür muss man sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, sondern sich an Daedalus orientieren. Durch die entsprechende Achtsamkeit bezüglich des eigenen Verhaltens hat man eine Chance die Hybris im Keim zu ersticken.
  • Kolonialismus vermeiden
    Die Vermessenheit führt nach einer gewissen Zeit zu einer Form des Kolonialismus. Die Anderen werden als minderwertig wahrgenommen. Das stetig stärker werdende Geltungsbedürfnis führt zu immer unrealistischeren Vorstellungen. Irgendwann werden die Kolonialisten nicht mehr ernst genommen.
    Mit der entsprechenden Bescheidenheit würde der Schwung reduziert, andere am eigenen Wesen genesen lassen zu wollen. Alle Aktionen, die das Team mit negativer Energie laden, schaden am Ende einem selbst. Sobald das einem klar geworden ist, hat man die Wahl – weiter wie bisher mit dem Risiko langfristig zu scheitern oder den Kolonialismus zu unterdrücken und durch einen wertschätzenden Umgang alle erfolgreich zu machen.
  • Populismus meiden
    Populismus zeigt sich an aktiven Beleidigungen und fortwährenden Verunglimpfungen. Die Anderen sind blöd. Nur wir sind im Besitz der Wahrheit. Dadurch werden alle, die nicht dazugehören, systematisch ausgegrenzt. Dies erzeugt Widerstand bei den Betroffenen und lässt die Populisten in ignoranter Hybris stecken.
    Mit der entsprechenden Bescheidenheit wäre ausreichend Raum für Respekt. Und Respekt würde den Betroffenen die Möglichkeit bieten, die gestellten Aufgaben zu meistern. Die größten Vernichter von Schaffenskraft sind negative Botschaften. Die scheinbare eigene Aufwertung nützt dann auch nichts mehr.

Manche glauben, dass Bescheidenheit einen zurück wirft. Da jedoch die überzogenen Versprechungen der Anderen nur selten befriedigende Ergebnisse erzeugen, trennt sich bald die Spreu vom Weizen. Das Resultat wird durch die Lattenhöhe bestimmt, die überwunden werden soll. Liegt die Latte zu hoch, kann man sie nur reißen. Nur der erfüllte Auftrag ist der erfüllte Auftrag – und achtzig Prozent ist ein gutes Ergebnis, zwanzig Prozent nicht.

Fazit: Da mittlerweile zu oft Superlativen genutzt werden, ist es Zeit, die bewährte asiatische Bescheidenheit auch im Westen auszuprobieren. Dadurch werden die immer höhere Anspruchshaltung und die schwer erfüllbaren Erwartungen auf ein realistisches Maß gebracht. Die Hybris, der damit verbundene Snobismus und die beleidigenden Schmähungen entwickeln sich dann seltener. Am Ende werden bessere Ergebnisse durch die Vorteile der Bescheidenheit ermöglicht, da alle Beteiligten ihren möglichen Beitrag leisten können.