Archiv der Kategorie: Deutsch

Meinungen sind die neuen Wahrheiten

Wir nehmen die Welt IMMER mit unseren Sinnen wahr. Jedoch sehen und hören wir nur das, was unsere Filter durchlassen – das, was wir bereits kennen und manchmal bemerken wir etwas Unbekanntes. Alle Sinneseindrücke, inklusive der Medien, begutachten wir und stufen sie als wahr oder unwahr ein. Beispielsweise leiten wir aus dem sichtbaren Verhalten von Personen deren Erwartungen, Absichten, Überzeugungen und mentale Modelle ab, die zusammen für uns zu unserem wahren Bild der Person werden. Zuverlässiger scheinen die äußeren Tatsachen zu sein, die durch ihre Messbarkeit verlässliche Wahrheit suggerieren. Ein gutes Beispiel für die Vagheit von Standards bieten die japanischen Raumgrößen, die in Tatami gemessen werden. Der Blick in ein typisches Zimmer zeigt sechs Tatami. Die Größe entspricht in Tokio und Ostjapan guten 9 qm und in Kyōto und Westjapan fast 11 qm. Allerdings glauben Unwissende, dass das Standardzimmer in Japan gleich groß ist, nämlich sechs jō. Was bleibt, sind die Meinungen, die von jeder einzelnen Person als Wahrheit angenommen werden.

Aussagen verlieren ihren Wahrheitsanspruch, sobald das Publikum sie für sich auslegt. Faktenchecks verkommen durch die Filter der Fakten-Checker zu einer zusätzlichen Verzerrung der Bedeutung. Die folgenden Punkte zeigen die Grenzen der Meinungsbildung.

  • Worte bestimmen die Grenze
    Beobachten Sie Ihre inneren Bilder, die sich beim Lesen der folgenden Beispiele ergeben.
    Beispiel 1: Eine Menge besorgter Bürger versammelten sich auf dem Marktplatz, um sich für eine andere Verteilung der Unterstützungsmaßnahmen einzusetzen.
    Beispiel 2: Eine Gruppe Rechter randalierte unter dem Kriegerdenkmal gegen die ungerechte Bevorzugung von linken Alternativgruppen.
    Beispiel 3: 45 Menschen; Marktplatz; Scheiterhaufen aus Verbotsschildern, mit Botschaften, wie mehr Gerechtigkeit für Familien; gleiche Chancen für alle, lieber krank als ruiniert usw.
    Sachverhalte lassen sich durch die Wahl der Worte negativ oder positiv aufladen, unabhängig von dem jeweiligen Geschehen. Autoren können den Effekt verstärken, indem sie wertende Bedeutung hinzufügen: Freiheitskämpfer oder Terroristen; Staatsgewalt oder Sicherheitskräfte; berechtigt oder unberechtigt; alle und jeder versus die Gruppe-A und die Gruppe-B; oder gegenwärtig Querdenken, was eigentlich originell denken bedeutet, aber von Konservativen in Deutschland als Synonym für den Widerstand gegen Covid-Maßnahmen vereinnahmt wird.
  • Bildausschnitte verschieben die Grenze
    Ein Bildreporter fotografiert das Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven – mal auf den Scheiterhaufen; auf ausgewählte Schilder; auf Springerstiefel; auf einzelne Personen, die von drei behelmten Polizisten zu Boden gedrückt werden; auf einzelne Polizisten, die von mehreren vermummten Aktivisten zu Boden gedrückt werden; aus Sicht der Demonstranten auf die Polizisten; aus Sicht der Polizisten auf die Demonstranten; von unten; von oben; aus einer Totale, die alle Demonstranten zeigt; eine Totale, die die Spitze der Demonstration zeigt und keinen Rückschluss auf die Gesamtzahl der Teilnehmer erlaubt.
    Der Bildausschnitt beeinflusst das Standbild in gleicher Weise wie das Bewegtbild. Die Entscheidung für die jeweiligen Bilddetails trifft in beiden Fällen der Kameramann.
  • Videoschnitte dynamisieren die Grenze
    Die Bewegtbilder werden im Studio beschnitten und beliebig wieder zusammengestellt. Dabei entstehen aus dem Originalmaterial kleine Sequenzen von 1 bis 10 Sekunden, die neu zusammengesetzt werden. Die so entstehenden Ausschnitte und die neue Reihenfolge erzeugen die Wahrheit, die die Betrachter wahrnehmen. Wer zuerst am Boden liegt, ist das Opfer – je nach Schnitt liegt ein Obrigkeitsvertreter oder ein Demonstrant am Boden und wird malträtiert. Wer Leute misshandelt, wird zum Täter, wer unterliegt zum Opfer. Zusätzlich verstärken die gewählten Bildausschnitte (s.o.) den Effekt. Die Cutter bzw. Schnittmeister bestimmen den Rhythmus der Bilder und das Zusammenspiel mit dem Ton.
  • Der Ton unterstützt die Grenze
    Meistens gehört zu Filmen der Ton – Originalton, separat aufgenommene Umgebungsgeräusche, Musik oder Kommentatoren im Hintergrund sowie nachsynchronisierte Stimmen – der geschickte Mix ergibt die Tonspur von Filmen. Die Wirkung der Bilder wird durch die durchdachte Gestaltung des Tons beeinflusst, ohne dass die Klänge bewusst bemerkt werden – unsaubere Sprachaufnahmen z.B. starkes Rauschen oder Hall verunsichern; der Tonfall des Kommentars (z.B. schnelle oder langsame Aussprache, laut oder leise; euphorisch oder dubios flüsternd) erzeugt die Grundstimmung; das musikalische Tongeschlecht (d.h. Dur oder Moll) schafft zusätzliche Gefühle; die Geräuschkulisse dynamisiert zusätzlich (z.B. Lärm von Maschinen; starker oder leichter Wind; gleichmäßiges Plätschern von Wasser oder eine donnernde Brandung; usw.). Toningenieure tragen damit zur Stimmungslage eines Films wesentlich bei.
  • Denkmuster setzen die Grenze
    Am Ende bestimmen die Zuschauer und -hörer, wie sie die bereitgestellten Inhalte auslegen. Die Perspektiven erzeugen für jede(n) unterschiedliche Wahrheiten – abhängig von den gewählten Worte und der Gestaltung. Wenn „Übersetzer“, z.B. Kritiker, Kuratoren und Kommentatoren, die Inhalte auslegen, bauen sie unwillkürlich ihre eigenen Meinungen ein. Dies geschieht im Normalfall unbewusst – auch wenn manche die Vagheiten ausnutzen, um den Sinn zu verdrehen. Beispielsweise das Denkmuster von Freiheit: manche verstehen darunter, zu nichts gezwungen, d.h. unabhängig von dem Druck Anderer zu sein. Dann gibt es die Liberalen in der Politik, die meinen, frei agieren zu können, was für sie bedeutet, mit Anderen machen zu können, was sie wollen.

Fazit: Der Begriff der ‚Alternativen Fakten‘ beschreibt dieses neue Normal treffend. Populisten haben den Wert dieses Begriffs frühzeitig erkannt und setzen ihn ein, um sich gegen Aussagen von konkurrierenden Gruppen zu wehren. Es gipfelt in der Behauptung im Besitz der wahren Fakten zu sein. Vor dem Buchdruck vor hunderten von Jahren haben Menschen Inhalte vorwiegend mündlich weitergegeben. Durch die Verbreitung von Inhalten durch Verlage und später Sender übernahmen die entsprechenden Institutionen die Kontrolle über das, was ein Fakt sein sollte. Mit dem Internet ist die Büchse der Pandora geöffnet. Alle können sich heute beteiligen. Leider verstehen viele nicht, dass sie mit einem Internet-Post etwas VERÖFFENTLICHEN. Damit wird sichtbar, was in den Köpfen der Menschen vorgeht. Die Grenzen werden dabei von der Wortwahl, dem Bildausschnitt, der Zusammenstellung der Bilder, dem Ton und vor allem von den Denkmustern der Zielgruppe bestimmt. Das macht die Meinungen zu den neuen Wahrheiten – und wir müssen jetzt lernen, damit umzugehen.

Managementbeteiligung der Zukunft

Eine der Hürden auf dem Weg zu Agilität und Entrepreneurship, einer lebendigen Unternehmenskultur und einem sicheren psycho-sozialen Klima, echter Selbststeuerung und intrinsischem Commitment sind die Entscheider. Mit der Übergabe von Handlungsvollmachten und verteilter Selbststeuerung verlieren sie ihre Raison d’être. Sie übersehen dabei, dass diese neuen Ansätze vor allem Ausdruck ihres Unvermögens sind, sich stimmige Strukturen einfallen zu lassen, die den Absturz in die Anarchie verhindern. Führung hat sich in der Evolution solange als wirksam gezeigt, bis die Anzahl der Mitglieder den Bereich der Dunbar-Zahl erreicht – unsere Fähigkeit mit nicht mehr als ca. 150 Menschen umgehen zu können. Gleichzeitig können wir uns den modernen Anforderungen nach mehr Selbstständigkeit der Mitarbeiter verschließen. Damit fallen einige Führungsstile für das Management in Zukunft weg – Diktatur, rigide Befehlsketten, Mikromanagement.

Die beiden Bereiche, mit denen sich die Führung immer auseinandersetzen muss, sind die Verteilung der Rollen (d.h. zentralisiert vs. dezentralisiert) und die Art der Entscheidungsfindung (d.h. Bottom-up vs. Top-Down).

  • Fragmentierter Ansatz
    Das Extrem der Anarchie beginnt bereits, wenn die Leitenden den verteilt Arbeitenden die Entscheidungen überlassen und diese ihre Wünsche von unten nach oben durchsetzen, ohne sich abzustimmen. Mit diesem zersplitterten Ansatz wären zwar alle dezentralen Aspekte berücksichtigt, allerdings gäbe es keine abgestimmten, gesamtheitlichen Vorgehen. In der Konsequenz ist jeder Standort eine selbstständige Einheit, die lokal entscheidet, über eigene unabgestimmte Ansätze und eine eigene Sicht des Geschehens verfügt sowie situationsbezogen agiert.
    Das Unternehmen verkommt zu einer Adhokratie mit einer formellen Holding ohne Aufgabe.
  • Allgemeiner Ansatz
    Ohne Berücksichtigung der Bedürfnisse der Standorte lassen sich keine viablen Ansätze mehr finden. Ein Bottom-up-Ansatz, der abzustimmende Maßnahmen nutzt, ggfs. über mehrere Stufen, ist der Ausweg aus einem ungreifbaren Durcheinander der Absichten. Voraussetzungen sind eine gemeinsame Haltung und die frühzeitige Berücksichtigung der einzelnen Standpunkte. Dafür werden bereits erfolgte Umsetzungen auf verschiedenen Ebenen nachjustiert. Liebgewonnene Besonderheiten im Interesse aller werden nachträglich geopfert – die Abschnitte müssen bei dem übergeordneten Bereich Entscheidungen anfordern sowie abgestimmten, bürokratischen Abläufen folgen, um abschließend ein benötigtes Ergebnis zu erhalten.
    Das Unternehmen schafft eine Bürokratie mit mehreren Ebenen und wird zu einem starren Apparat mit aufwendigen Entscheidungen, viel Doppelarbeit und Nachbesserungen.
  • Gemeinsamer Ansatz
    Durch einen von oben vorgegebenen Rahmen können unnötige Anstrengungen im Vorhinein abgefangen werden. Mithilfe einer übergreifenden Strategie, einem gemeinsamen Selbstverständnis, einem bindenden Handlungskorridor und einem gemeinsamen Verhaltenskodex können die Dezentralen ihre Bedürfnisse einbringen und verwirklichen, solange sie sich im Rahmen bewegen. Auch hier müssen die Standorte auf gewünschte Besonderheiten verzichten, können gemeinsame Errungenschaften übernehmen und Entscheidungen vorschlagen. Sie entwickeln gemeinsam wiederverwendbare Bausteine, abgestimmte Abläufe und sich gegenseitig ergänzende Ergebnisse.
    Das Unternehmen wird zu einer Demokratie mit einer klaren Ausrichtung und gemeinsamen Spielregeln.
  • Konzentrierter Ansatz
    Das Extrem der starren Zentrale beginnt, wenn die Bedürfnisse der Standorte übergangen werden und eine kopflastige Zentrale den operativen Bereichen diktiert, was zu tun ist – ohne jemals selbst etwas praktisch zu tun. In diesem Ansatz erzeugen die einzelnen Bereiche (Einkauf, Personal, Strategie, Produktmanagement, Vertrieb usw.) Vorgaben für die Standorte. Bei aller Zentralität allerdings keine bereichsübergreifenden Anforderungen. Anstelle vervollkommnet sich jeder Bereich auf Kosten der anderen – jeder für sich. Der unzureichende Kontakt zur Basis, die Entscheidungen am grünen Tisch und die fehlende Verantwortung erzeugen innerbetriebliche Störungen, die die Viabilität beschädigen. Gleichzeitig werden aber unternehmensweite Entscheidungen und Strukturen möglich, mit zuverlässigen Abläufen und einem gültigen Ergebnis.
    Das Unternehmen degeneriert zur Autokratie mit einer Machtstruktur fernab der realen Welt, die nicht viabel ist, da nicht nur ein Mangel an Verständnis vorherrscht und unangemessene Entscheidungen getroffen werden, sondern gleichzeitig auch die Energien der Standorte ungenutzt bleiben.

Fazit: Der Grund, warum immer wieder alter Wein in neue Schläuche gefüllt wird, ist die Tatsache, dass die Manager auf die heutige VUKA-Welt keine Antworten haben. Das Geschäft ist nicht mehr überschaubar oder planbar. Es fehlen zuverlässige Strukturen, an denen man sich ausrichtet. Jede Simulation des Geschäfts liefert nichts weiter als Wahrscheinlichkeiten, die durch den nächsten Schwarzen Schwan zunichtegemacht werden. Die Geschwindigkeit, in der sich die Welt verändert, erlaubt keine Befehlsketten, sondern erfordert Wellen der Inspiration, die alle stimulieren. Es geht nicht mehr ohne das Zusammenspiel mit den Menschen, die am Ort des Geschehens sind – im Entwicklungsbüro der offene Austausch von Ideen, in der Produktion die Transparenz des Produkts, im Vertrieb das Verständnis der Kunden oder im nachgelagerten Service die Verfügbarkeit der bekannten Lösungen. Vor Ort stecken die Fähigkeiten, die eine gute Erbringung der Leistungen ermöglicht. Könnten die Führungskräfte diese Potenziale so steuern, dass sie viable Ergebnisse für das Unternehmen erbringen, dann bekämen wir in Zukunft wieder eine sinnvolle Managementbeteiligung.