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Nagiles Mindset

Alle Beteiligten tragen bei der Umsetzung von Agilität ihr Kreuz auf der Stirn geschrieben. Mit ein wenig Aufmerksamkeit erkennt man schnell, wo die Grenze verläuft. Wir haben es bereits von außen betrachtet (s. Nagile Anhaltspunkte). Selbst mit den besten Rahmenbedingungen bekommt man jedoch Agilität nicht zum Fliegen, wenn die Mitarbeiter in ihrer Komfortzone verbleiben. Es ist die Haltung, die Einstellungen, die Werte und Erwartungen, kurz unser Mindset, das unser Verhalten, von uns unbemerkt steuert. Ich denke, also bin ich – so, wie ich mir das vorstelle.

Beim rationalen Blick in den Spiegel bemerken wir unsere Demarkationslinie nicht. Im Gegenteil. Unser Denken denkt sich vernünftig, wodurch wir unsere Manier nicht erkennen. Der Blick auf das vagile Mindset der anderen fällt uns dagegen leicht. Was sehen wir denn da?

  • Fragen vor dem Schritt
    Die Schwierigkeit für Nihilisten ist es, sich in Bewegung zu setzen, d. h. einfach anzufangen und das zu tun, was wir verstanden haben. Sich dem unwahrscheinlichen Risiko auszusetzen, dass man alles völlig falsch verstanden hat. Und nicht die Energie in Rückfragen zu stecken, was genau zu tun ist.
    Agilität braucht Quantenspringer, die aus dem Stand anfangen, ohne gleich zu wissen, was hinten raus kommt oder kommen soll.
  • Hilflosigkeit an der ersten Hürde
    eine weitere Version von Nagilität sind die aktiven Nihilisten, die aus der Überzeugung agil zu sein sofort beginnen, aber an der ersten Hürde stecken bleiben. Das Hindernis verunsichert, da man hier ein Wagnis eingeht – vielleicht, weil man es nicht gewohnt ist, darüber zu springen, oder weil sie hoch ist, oder weil man die Höhe noch nicht einmal einschätzen kann. Sofort beginnt die Suche nach einem Weg, um das Hindernis herum, oder nach dem Team, das einem hinüberhelfen kann.
    Agilität braucht experimentierfreudige, selbstständige Teamplayer, die sich erst einmal selbst helfen.
  • Knallhart in der Darstellung – banal in der Sache
    Die Arbeit besteht natürlich nicht nur aus Hürden. Die meiste Zeit kann man sein Geschäft ohne Überraschung durchführen. In der gewohnten Rolle weiß man, wie man die nächsten Schritte plant, sich eigene Ziele setzt, woher man seine Inputs erhält und wie man zu dem gewünschten Ergebnis kommt. Die Nihilisten outen sich spätestens dann, wenn sie die Früchte einer Arbeit beurteilen. Sie legen Wert auf die Form und weniger auf den Inhalt – das richtige Format, der richtige Font, ausreichend Weißraum und schöne Bilder.
    Agilität braucht verbal und visuell talentierte Kommunikatoren, die ihre Inhalte durch die entsprechende Form verstärken – und nicht vice versa.
  • Fehlender Schaffensdrang
    intrinsische Motivation ist der Brennstoff, der Einzelpersonen in Schwung hält. Unterstützt vom Team, das durch eigenen Antrieb sein Momentum erhält, werden Tiefs überwunden. Der dafür erforderliche Schaffensdrang, der von innen her stimuliert schöpferisch produktiv zu werden, fehlt Nihilisten. Sie ziehen es vor den Stapel von links nach rechts abzuarbeiten – was ebenfalls eine sinnvolle Eigenschaft ist, nur nicht für die Agilität.
    Agilität braucht unternehmerisch denkende Macher, die die Welt verändern, zumindest ihren Teil dazu beitragen.
  • Dienst nach Vorgabe
    es geht nicht um den Dienst nach Vorschrift, sondern um die Abarbeitung eines wohldefinierten Auftrags, der einem am besten noch vermittelt, was das Ergebnis sein soll. Ist die Beschreibung unvollständig, bleibt man bei der ersten Schwierigkeit hängen (siehe oben). Motiviert und sich den Aufgaben völlig verpflichtet fühlend, nur das zu tun, was gewünscht ist, macht den Nihilisten aus.
    Agilität braucht das genaue Gegenteil – Leistung jenseits des Auftrags, außerhalb der eigenen Komfortzone und immer im Wettbewerb mit sich selbst.
  • Selbsteffektivität anstelle Aufgabeneffektivität
    Das Richtige richtig tun ist allen wichtig. Keiner möchte etwas tun, was man eigentlich nicht braucht. Und es sollte mit möglichst wenig Energieverbrauch das Ergebnis erzeugt werden. Das klingt gut. Auch Nihilisten arbeiten so. Allerdings bedeutet hier das Richtige, dass man sich auf die Dinge konzentriert, die einem persönlich wichtig sind und allem anderen möglichst aus dem Weg geht. Die verbleibenden Aufgaben sollten so abgewickelt werden, dass sie die privaten Absichten nicht gefährden.
    Agilität braucht die Konzentration auf das Team und seine Resultate. Das, was das Team benötigt ist, wichtiger und das Einzige, was nicht gefährdet werden darf, ist das Gesamtergebnis der Arbeitsgruppe.
  • Nur nichts neues
    Lernen ist eine Aufgabe, die an Schulen, Hochschulen und Corporate Universitäres delegiert ist. Hier geht es weniger um das langfristige Verankern von Erfahrungen und Wissen, sondern nur noch um Ramifikation – das Sammeln von Punkten, um in der nächsten Runde in einer besseren Startposition zu sein, als die anderen. Nihilisten verlieren bei dem Wechsel ins Berufsleben ihre Neugier und ihren Wissensdurst. Ihr Wissen verfällt entsprechend seiner Halbwertzeit (z. B. in der IT ist das Wissen nach zwei Jahren nur noch die Hälfte wert).
    Agilität braucht Lernhunger und Interesse, da die offenen Aufgabenstellungen selbstständige Recherchen und Verknüpfung der neuen Sichten benötigen.

Fazit: Um es gleich klar zu sagen: Nagelst ist KEIN Schimpfwort, sondern die Beschreibung einer bestimmten Art von Einstellung. Es müssen nicht alle Alexander von Humboldt sein, die sich in das Unbekannte stürzen und alles riskieren, um ihren Wissensdurst zu befriedigen. Allerdings sollten sich die Entscheider bewusst sein, dass die Belegschaften zu einem bestimmten Anteil aus Nihilisten bestehen – die sich erst einmal fragen „Ist das überhaupt nötig?“; die beim ersten Problem eine Teamsitzung einberufen; die immer gut aussehen, aber keinen Inhalt liefern; die nichts erschaffen wollen; die hervorragend das machen, was man ihnen sagt, und sonst nichts; die sich selbst und ihr Leben vervollkommnen und nicht ihre Aufgaben; die ihr Lernpotenzial, während ihrer Ausbildung aufgebraucht haben.
Agilität braucht die richtigen Rahmenbedingungen, aber vor allem das richtige Mindset der Mitarbeiter.

Spiegelneuronen – Autostart für Veränderung

Im Gegensatz zur Speicherung von Daten in einem Computer besteht unser Lernen in der Anhäufung von Erfahrungen, die sich zunehmend durch die Verknüpfung von Neuronen im Gehirn aufgrund von ähnlichen Erkenntnissen verankern. Je mehr wir wissen, desto leichter wird es, etwas Neues zu lernen. Die spannende Frage ist, wie die Aktivierung der ersten Neuronen beginnt, solange es noch keine Anknüpfungspunkte gibt. Vielleicht sind es die Spiegelneuronen, die die ersten Speicherungen ermöglichen, selbst wenn bisher keine Aktivierung besteht.

Die Spiegelneuronen liefern die Reflexe, über die ein Baby bereits kurz nach der Geburt verfügt. Nimmt man Minuten nach der Geburt ein Baby auf den Arm und streckt die Zunge heraus, passiert etwas Erstaunliches: Das Baby streckt ebenfalls die Zunge heraus. Diese Fähigkeit der Nachahmung könnte die genetische Voraussetzung für unser Lernen sein. Was bedeutet diese Fähigkeit für uns?

  • Wir können völlig Neues lernen
    Wer einmal eine völlig andersartige Sprache gelernt hat, kennt den Effekt. Für buchstabengewohnte Menschen wird das Erlernen von zeichenbasierter Kalligrafie, wie Chinesisch oder Japanisch, zu einer zusätzlichen Hürde – die „unlesbaren“ Zeichen, deren Aussprache sich nicht aus der Schreibung ableiten lassen, sondern gelernt werden müssen. Nachdem allerdings die Grundlage in der Verschaltung der Neuronen durch regelmäßiges Nachmachen und Üben geschaffen ist, wird es stetig leichter, das Netz der Neuronen mit zusätzlichen Zeichen zu erweitern.
    Das Gleiche gilt in allen anderen Lebensbereichen. Sobald wir eine neue Arbeitsweise übernehmen sollen, fällt es erst einmal schwer uns von den alten Mustern zu lösen sowie das Neue anzunehmen und zu verstehen. Die Betroffenen müssen dabei ihre bestehenden Vernetzungen neu verschalten. In diesen Fällen braucht es Vorlagen, die die Lernenden nachahmen können. Dabei helfen Geschichten, die erzählt werden, oder Rollenspiele, die vorgeführt werden – oder Artikel, Bücher, Podcasts oder Videos. Mit diesen Startimpulsen wird den Betroffenen das Lernen erleichtert.
  • Gemeinsames Lernen ist produktiver
    Das Futter für die Spiegelneuronen findet sich im persönlichen Umfeld. Es braucht eine Quelle an der man sich orientieren und die man nachahmen kann. In der Grundschule lernte man früher das Malen, indem die Schüler um den Lehrer herum standen und ihm beim Malen eines Baums voll von weißen Blüten aus Deckweiß zuschauten. Auf diese Weise wurden die Spiegelneuronen mit Verhaltensmustern versorgt, die dann beim eigenen Malen weiter verstärkt wurden. Zusätzlich hatte man die Möglichkeit, sich bei den Nachbarn weitere Tricks abzuschauen.
    Im Geschäftsleben werden derartige Lernsituationen durch Übungen geschaffen, in denen die Teilnehmer Aufgaben im Team lösen. Diese Art des dynamischen Lernens in Business Exercises knüpft an den bestehenden Erfahrungen der Teilnehmer an und nutzt die Möglichkeit, voneinander zu lernen.
  • Denkbeschränkungen sind kontraproduktiv
    Da es sich beim Lernen zu großen Teilen um eine unterbewusste Aktivität handelt, sind alle Arten von Denkbeschränkungen schädlich für den Fortschritt. Es darf keine Denkverbote, Kritik, Wertungen oder Ähnliches beim Lernen geben. Im Gegenteil. Die Teilnehmer sollten animiert werden Ihren Intuitionen zu folgen, Gedanken von Anderen weiterzuspinnen und Undenkbares, Unmögliches und Unsinniges einbringen zu können, denn das nutzt die bestehenden Verschaltungen im Gehirn aller Teilnehmer, die erweitert werden sollen. Auf diese Weise erzeugen die Beteiligten etwas Größeres, als sie in Summe alleine zuwege gebracht hätten.
    Alles, was es dafür braucht, sind Regeln, die das Wissen, die Erfahrungen und Meinungen zulassen – z.B. wie die Regeln im Brainstorming oder Design Thinking.
  • Spontanität zulassen
    Streckt das Baby nach der Geburt die Zunge heraus, wenn es jemanden die Zunge herausstrecken sieht, so handelt es sich nicht um eine bewusste Aktivität des Babys, sondern um das Sichtbarwerden eines angeborenen Reflexes. Erwachsen haben wir uns daran gewöhnt, mit Beschränkungen zu leben. Dies führt dazu, dass wir nicht mehr spontan sind – weil wir gelernt haben Kritik und Maßregelungen aus dem Weg zu gehen. Möchte man große Fortschritte ermöglichen, sollte man die natürlichen Impulse der Anwesenden zulassen, die durch die Spiegelneuronen hervorgerufen werden.
    Im Alltag beschränken sich Teams, indem sie sich gegenseitig ausbremsen oder bestätigen, der Meinung der Mehrheit folgen und ihre Ideen zurückhalten aus Angst vor einer schlechten Rückmeldung. Aus diesem Grund sollten die Teilnehmer einer Veranstaltung ermutigt werden, sich offen auszutauschen. Zusätzlich kann man durch anonyme Techniken, wie schriftlichen Äußerungen auf Metaplankarten, die eingesammelt und dann besprochen werden, die Hürde für die Teilnehmer absenken.
  • Aber … Auf kognitive Verzerrungen achten
    Arbeitende Spiegelneuronen sind jedoch nicht nur von Vorteil. Durch sie schleichen sich auch Automatismen in unsere täglichen Entscheidungen ein – die sogenannten Bias. So haben beispielsweise Gruppen die Tendenz, schlechtere Entscheidungen zu treffen, weil sie sich an die Gruppenmeinung anpassen, obwohl sie es besser wissen. Oder der Halo-Effekt, bei dem man seine Erwartungen von bekannten Eigenschaften einer Person ableitet, obwohl diese Rückschlüsse irreführend sein können. Spiegelneuronen wirken, auch wenn es nicht immer von Vorteil ist.
    Für die Praxis erfordert das ein sensibles Hineinhören in das Geschehen. Durch gezielte Störungen, indem beispielsweise eine Antithese in den Raum geworfen wird, besteht die Möglichkeit derartige Gruppeneffekte zu verringern.

Fazit: Wir lernen am Besten in der Gruppe. Dabei helfen Spiegelneuronen, die es ermöglichen uns unterbewusst an Menschen anzupassen, die um uns herum in einer ähnlichen Situation sind. Dies passiert in Sitzungen, Workshops und anderen Veranstaltungen. Wir können dadurch Startschwierigkeiten überwinden, die auftreten, wenn man etwas Neuem ausgesetzt wird, das man mit seiner Erfahrung noch nicht verbinden kann. Unsere Spiegelneuronen machen das Lernen im Team zu einer Autobahn der Veränderung. Dafür darf es keine Denkbeschränkungen geben und spontane Ideen, die noch kein Allgemeingut sind, sollten gefördert und wertgeschätzt und nicht mit Killerphrasen unterdrückt werden. Es ist jedoch geschickt, wenn man die unerwünschten, kognitiven Verzerrungen, die sich ergeben, im Auge behält. Unsere Spiegelneuronen sollten genutzt werden bei weitreichenden Neuerungen, denn damit ermöglichen sie einen Autostart für Veränderung.