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Grenzen Los Lassen

In Zeiten der klassischen Kommandokette haben sich viele Kettenglieder mehr Offenheit gewünscht. Je stärker die Teilnehmer verkettet waren, desto länger und unflexibler haben sich die Unternehmen bewegt. Mit der Einführung von Computern wurde zwar das Zusammenspiel durch die Virtualität beschleunigt. Allerdings wurde gleichzeitig jeder Bestandteil immer mehr verfeinert und die Anzahl der Verbindungen erhöht. Mit fortschreitender Strukturierung kam der Ruf nach mehr Offenheit – mehr Flexibilität, mehr Kontaktmöglichkeiten und mehr Zusammenarbeit intern und extern. Die digitale Transformation ermöglicht heute die weltweite Vernetzung von Unternehmen, Gruppen und Individuen. Diese Offenheit wiederum macht heute vielen Angst – es fehlen klare Grenzen, Möglichkeiten zur Identifikation und Handlungsrahmen. Starr geht nicht und offen geht nicht. Was tun? Grenzen Los Lassen.

Wie starre Offenheit denkbar werden kann, schauen wir uns mal an an. Arbeiten wir uns entlang der Worte: Grenzen Los Lassen.

  • Grenzen
    Mit diesem Wort wird ein System mit bestimmten Eigenschaften festgelegt, denen sich die Einen verpflichtet fühlen und die Andersartige ausgrenzen. Der Zusammenhalt wird durch gemeinsame Ziele, Regeln und Überzeugungen bestimmt.
    Den Unterschied macht in diesem Fall die Durchlässigkeit der Grenzen – Verschlossenheit durch unüberwindbare Trennungslinien; permeable Offenheit in beiden Richtungen.
  • Los
    Bündelt man locker eine Menge von Einzelteilen, erhält man eine Charge, die in einem Schwung verarbeitet wird. Dies könnte auch eine Menge von Vorfällen sein, die locker auf einen (un)vorteilhaft niederprasseln. Oder der Startschuss für den nächsten Schritt.
    Den Unterschied macht in allen Fällen die Aktion, die entschieden durchgeführt wird – etwas zu tun und sich den Konsequenzen zu stellen.
  • Lassen
    Die Bereitwilligkeit sich auf etwas einzulassen oder zuzulassen hat einen großen Einfluss auf den Eindruck der Ver- oder Aufgeschlossenheit eines Systems. Spannungen entstehen, wenn sich der Zusammenhalt verkrampft und aggressiv seine Grenzen verteidigt. Und auch, wenn er sich durch unbegrenzten Zufluss von Ungewohntem auflöst.
    Den Unterschied macht das Wachstum – die gesunde Balance zwischen inhaltlicher Erstarrung und Auflösung.
  • Grenzenlos
    Die Vermeidung von Grenzen geht einher mit dem Verlust von Identität. Das Gefühl der Zugehörigkeit ergibt sich aus den gemeinsamen Werten und Ritualen. Ohne die Festlegung von Grenzen können sich die Einzelnen nicht einordnen bzw. austauschen.
    Der Unterschied ist die Form der Grenzziehung – dogmatische Grenzen erzeugen Gewalt; bedingungslose Offenheit führt zu unerfülltem Selbstbewusstsein und am Ende auch zu Gewalt.
  • Grenzen lassen
    Einfach Grenzen zu öffnen ist ungeschickt, da die Mitglieder einer Gruppe über das Fehlen von Grenzen nicht unbedingt glücklich sind (s.o.). Ignoriert man die Abgrenzung, werden wir durch unsere Gene angetrieben, unser Territorium zu verteidigen.
    Den Unterschied macht die Toleranz – Mauern müssen nicht gleich eingerissen werden, sondern brauchen nur angemessene Passagen und Regeln, um sich austauschen zu können.
  • Loslassen
    Man sollte sich nicht an dem festhalten, was das Denken und das Handeln beschränkt, oder auf dem Althergebrachten bestehen. Neu gedacht werden kann nur, wenn man das Gewohnte zumindest pausieren lässt. Dadurch entstehen Offenheit und die notwendigen Treffpunkte, um sich durch neue Ideen zu verbessern und zu erweitern.
    Der Unterschied entsteht mit der kontinuierlichen Erweiterung des Systems – Systeme, die sich nicht öffnen kollabieren; Systeme, die Offenheit für die eigene Entwicklung nutzen, wachsen nachhaltiger.

Fazit: Ob man jetzt die Grenzen loslässt oder grenzenlos lässt, bleibt dem Leser überlassen. Das Durchmischen der Worte hat hoffentlich bewusst gemacht, dass es um die Grauzone zwischen Grenzenlosigkeit und dem Eisernem Vorhang geht. Systeme haben keine Chance zu überleben, wenn sie sich abkapseln oder sich grenzenlos fraktalisieren. GrenzenLosLassen – die Auslegung liegt im Auge des Betrachters.

P.S.: Wer die Grenze der heutigen Zeichnung erkennt, hat verstanden.

Der Wald – die ideale Metapher für Systemkomplexität

Das kleine Wäldchen im Stadtpark lässt sich leicht umrunden. Die Waldfläche, die sich von Skandinavien bis in den hintersten Winkel von Sibirien erstreckt, ist eine große Herausforderung. Und trotzdem bilden beide jeweils ein Ganzes, das aus den gleichen, verschiedenartigen Bestandteilen besteht – Bäume, Büsche, Pflanzen, Pilze, Wild, Vögel, Kriechtiere, Schnecken, Insekten, Spinnen, Würmer, usw. Zusammen ergeben sie den Wald, den wir nicht verstehen, wenn man nur einen Ausschnitt separat betrachtet – die Eiche, den Haselbusch, den Hasen oder die Kreuzotter. Den gleichen Effekt erzeugen alle anderen Systeme – z.B. Organisationen, Kulturen, das World Wide Web, Projekte, Wissenschaften und Ökonomien. Für viele ist der Blick auf einen Baum, einen Ast, ein Blatt oder einen Trieb aussagekräftiger, als der Blick auf den Wald. In der Folge sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.

Folgende Aspekte gelten für den Wald und alle Arten von Systemen.

  • Der Waldrand – Ein System hat Grenzen
    Die Grenzen von großen Waldgebieten, wie dem Schwarzwald, dem Amazonas-Regenwald oder der Taiga, sind schwieriger zu erfassen, als die von kleinen Wäldern, z.B. dem Bois du Bologne, dem Tiergarten oder dem Yoyogi-Park. Die Grenzen sind fließend. Mittels entsprechender Karten wird bestimmt, wo das Waldgebiet genau endet. Die gleiche Festlegung brauchen alle Systeme. Ein Wirtschaftsraum, wie beispielsweise die EU, braucht abgesteckte Demarkationslinien, da er nicht an Kontinenten ausgerichtet ist. Mitten in Europa findet sich die Schweiz. Melilla, eine Exklave der EU, liegt in Nordafrika. Die Festlegung der Grenzen eines Waldes oder eines Systems ist die Voraussetzung für die klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten.
  • Bäume, Büsche, Pflanzen, Getier – Ein System besteht aus Systemen
    Die Bestandteile eines Waldes aufzuzählen würde diesen Artikel sprengen. Entscheidend ist die Tatsache, dass diese Elemente selbst wieder Systeme darstellen, die zwar zusammen den Wald bilden, aber gleichzeitig ihr komplexes Eigenleben haben. Ob jetzt die Bäume soziale Wesen sind, die miteinander kommunizieren und Gefühle haben, wie das ein deutscher Förster sich vorstellt, mag Glaubenssache sein. In jedem Fall hat sich gezeigt, dass die Flora und Fauna zusammen den Wald ausmachen. Er verliert an Lebensfähigkeit, wenn das Zusammenspiel gestört wird. Das Gleiche gilt für alle Arten von Systemen. Eine Gesellschaft wird zusammengehalten von den Einzelpersonen mit ihrem Rechtssystem, ihrer Kunst und Wissenschaft, die über ähnliche Überzeugungen und Götter verfügen. Kommt es zu Störungen in diesem Gefüge, dann ergibt sich ein Zusammenprall der Zivilisationen mit den bekannten Folgen. Für eine wirksame Lenkung eines Systems ist es entscheidend die Teilsysteme mit ihren Bedürfnissen zu identifizieren.
  • Die Natur – Ein System lebt
    Die Faszination eines Waldes liegt in der Fähigkeit zur Autopoiesis. Überlässt man ein Ökosystem, wie einen Wald, sich selbst, tauchen wie aus dem Nichts seine Bestandteile hervor. Im richtigen Klima und mit ausreichend Wasser emergieren die Pflanzen und das Getier. Ein gutes Beispiel ist die isländische Insel Surtsey, die 1963 durch eine Folge von Vulkanausbrüchen entstanden ist. Das neu geschaffene Land wurde überraschend schnell von Pflanzen und schließlich von Vögeln besiedelt. Das Ganze funktioniert dadurch, dass alles auf der Erde Teil eines großen Systems ist, das man Gaia nennt. Das Gleiche gilt für die menschgemachten Dinge. Nehmen wir das World Wide Web als Beispiel. Es basiert heute noch auf den Konzepten, die 1989 entwickelt wurden – http(s), URLs, Hyperlinks, Email, usw. Und es entwickelt sich immer noch weiter – das WWW lebt. Die Verantwortlichen eines Systems sollten sich stets bewusst sein, dass das System seine Eigendynamik hat, auch ohne dass sie unentwegt Einfluss nehmen.
  • Der Tag, der Monat, das Jahr -Ein System hat Zyklen
    Die wichtigsten Zyklen eines Waldes werden von der Erde bestimmt – der Tag, der Monat, das Jahr, das Leben. Der Wechsel von Tag und Nacht, der Lauf der Sonne und die Jahreszeiten sowie die Lebensphasen sind in dem Verhalten des Waldes und seiner Elemente fest verankert. Alles ist darauf eingestellt, um im Sommer die Kraft zu sammeln, die einen über den entbehrungsreichen Winter bringt. Diese Zyklen zu kennen ermöglicht es, sich daran anzupassen. Alles wächst aus dem Nichts, durchläuft die Jugendphase, ist für eine bestimmte Zeit produktiv und baut irgendwann ab und verschwindet. Der Wald als Ganzes ist darauf eingestellt. Überall befindet sich etwas im Wachstum und Vergehen. Das Gleiche gilt für Projekte. Sie beginnen als Idee, werden zu einem komplexen Ganzen und lösen sich am Ende wieder auf. Die Berücksichtigung der Zyklen des Gesamtsystems und seiner Komponenten ist wichtig für seine Steuerung.
  • Der Dschungel – Ein System tendiert hin zum Gleichgewicht
    Überlässt man einen Wald sich selbst, dann tendiert er zu einem ausgewogenen Zustand. Die Bäume, Büsche und Pflanzen werden zu einem undurchdringlichen Ganzen. Nur die Tatsache, dass es auch in der Natur Störungen gibt, wie Gewitter, Stürme, Flüsse, die über die Ufer treten, Tiere, die die jungen Triebe eines Baumes fressen und natürlich der Mensch, der gnadenlos in das Ökosystem eingreift, verhindern, dass der Wald ins Gleichgewicht kommt, d.h., dass dort nichts mehr passiert. Das Gleiche gilt für die Wissenschaften, die unaufhörlich zu neuen Einsichten kommen. Unser steinzeitlicher Erfahrungshorizont war anders als der mittelalterliche oder der heutige. Die Folgen der Quantenphysik sind für uns jetzt noch nicht absehbar. Die entscheidende Erkenntnis ist hier, dass Störungen gut sind, da sie das System am Leben halten.
  • Das Umland – Ein System interagiert kontinuierlich mit seiner Umwelt
    Wie bereits erwähnt ist ein Wald zumindest eingebettet in ein anderes System – Gaia. Betrachtet man den Wald unabhängig von seiner Umwelt, dann verlieren wir einen wichtigen Motor für dessen Weiterentwicklung. So wie die Insel Surtsey durch das Meer und die Luft mit Leben infiziert wurde, so wird auch ein Wald kontinuierlich von seiner Umwelt unter Druck gesetzt. Das können die Autos sein, die um ihn herum fahren oder die Fahrzeuge, die in der nächsten Stadt ihre Emissionen in die Luft jagen. Selbst die Fauna dringt immer wieder in die Wälder ein, wie die Wölfe, die mittlerweile ohne unüberwindliche Grenzen durch Europa wandern. Das Gleiche gilt für Ökonomien. Eine Wirtschaft braucht die Energie von außen, um wachsen zu können. Wandert das Geld innerhalb des Systems immer nur von der rechten in die linke Tasche erhöht sich der Reichtum nicht. Es braucht den Handel mit den umgebenden Systemen, um aus einem Produkt oder einer Dienstleistung einen Mehrwert zu erzeugen. Gehen die Kosten gegen null, wie bei den heutigen digitalen Leistungen, und erfolgt der Verkauf außerhalb des eigenen Systems, dann wächst der Mehrwert ins Unermessliche. Verlierer sind die, die nichts produzieren und von außen versorgt werden. Das Zusammenspiel des eigenen Systems mit anderen ist kritisch für ihren Wohlstand.

Fazit: Der Wald verfügt über eine unvorstellbare Vielfalt. Gleichzeitig sind uns seine Elemente vertraut. Damit lässt sich die schwer nachvollziehbare Komplexität von Systemen gut verdeutlichen. Ein System hat festgelegte Grenzen, besteht aus anderen Subsystemen, lebt in Zyklen, strebt das Gleichgewicht an und steht in kontinuierlicher Interaktion mit seiner Umwelt. Damit ist der Wald die ideale Metapher für Systemkomplexität.