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Lernen aus eigener Erfahrung

Wir lernen durch Beobachtung von Lehrern oder anderen und aus den Erfahrungen, die wir selbst machen. Dabei spielt sich alles in unseren Köpfen ab – in jedem Einzelnen. Die Lektionen werden durch mündliche Weitergabe und entsprechende Trägermedien übermittelt – z.B. Werkzeuge, Instrumente, Skulpturen, Visualisierungen und multimediale Medien. Wenn Zeitzeugen fehlen, werden vergangene Erfahrungen nur durch Objekte sichtbar. Aus historischen Funden leiten wir die Erkenntnisse früherer Menschen ab. Mündliche Überlieferungen wie die der Aborigines, die Ereignisse und Erfahrungen der Vergangenheit seit undenklichen Zeiten von Generation zu Generation weitergeben, sehen klassische Medien nicht als bestätigte Nachweise. Deshalb akzeptieren beispielsweise die Regeln von Wikipedia keine Beiträge, die Mund zu Mund überliefert sind. Damit liegt ein großer Teil unseres Wissens im Dunkeln des Undokumentierten. Das vorzeigbare Know-how ist beschränkt auf die gefundenen Artefakte – Faustkeile von vor 1,75 Millionen Jahren; über 40.000 Jahre alte Flöten; Höhlenmalereien und Skulpturen, die über 30.000 Jahre alt sind. Bei aller Körperlichkeit der Objekte bleiben uns die Bedeutung und die damit verbundenen Gedanken und Fähigkeiten unerreichbar.

Durch entsprechende Auslegung können Erkenntnisse, wie z.B. das Wissen über vergessene medizinische Wirkstoffe wieder zum Leben erweckt werden. Eine entscheidende Rolle bei der Wiederverwendung spielen die Sprache, das Übertragungsmedium und der Kontext. Diese Aspekte gelten auch für die Flut an begutachteten wissenschaftlichen Veröffentlichungen (mehr als 2,5 Mio. Artikel in 2018). Was sollten wir bedenken, wenn wir aus früheren Erfahrungen lernen wollen?

  • Die Sprache offenbart – wenn auch nicht alles
    Wir leben mit der Illusion, dass Überzeugungen nachvollziehbar in eine sprachliche Form gebracht werden können. Dabei übersehen wir, dass die Formate des Ausdrucks nicht in der Lage sind, die tatsächliche Bedeutung vollständig zu transportieren (s. Meta-Modell der Sprache). Das gilt vor allem für die genutzten Zeichen und Worte und das abweichende Vokabular von Sprachen (Fachjargons und Übersetzungen) – wenn beispielsweise das Verständnis von kurz-, mittel- und langfristig von einem bis zehn Jahre auf einen Monat bis drei Jahre verkürzt wird, hat dies unterschiedliche Auswirkungen. Im ersten Fall kann die Zukunft gemeinsam gestaltet werden. Im zweiten Fall läuft die Belegschaft immer neuen Vorgaben hinterher, ohne eine Chance zu haben, sich zu beteiligen.
    Historische Aussagen können wir nur durch Annahmen nutzen. Obwohl wir die Zeichenfolge eines Wortes lesen können, wissen wir nicht, was sie ursächlich bedeuteten. Die alten Griechen unterschieden projekthafte Geschäftstätigkeit zum Erwerb des Lebensunterhaltes und der Finanzierung der Muße von der körperlichen Sklavenarbeit. Das entspricht nicht mehr unserer heutigen Sicht, bei der die Work-Life-Balance im Vordergrund steht. Der Anreiz zu arbeiten (Work) ergibt sich heute intrinsisch aus dem Verlangen nach Anerkennung und Selbstbestätigung sowie extrinsisch aus pekuniären und anderen geldwerten Leistungen. Der Drang nach Work-Life-Balance ist der Versuch die Belastungen der Tätigkeit durch Freizeitaktivitäten (Life) auszugleichen, nicht Muße. Die Unannehmlichkeiten der Arbeit, die Abhängigkeiten, Fremdbestimmungen und Entmündigungen sollen in der Freizeit diese Nachteile durch einen übervollen Kalender von Freizeitaktivitäten ausgleichen.
    Die Begrifflichkeiten der Arbeit und Nicht-Arbeit haben sich über die Jahrhunderte immer wieder verschoben – selbst bei der Agilisierung der letzten Jahre. Trotzdem halten Unternehmen weiter an vertikaler und horizontaler Arbeitsteilung fest. Mit ihren veralteten Vorgehen scheitern Unternehmen bei der Einführung neuer Führungsstile für die agile VUKA-Welt.
  • Das Medium überträgt – wenn auch nicht für immer
    Die Langlebigkeit und die Verfügbarkeit eines Mediums legen fest, ob Auffassungen sichtbar bleiben. Höhlenwände, die unzugänglich und vor Licht geschützt trocken liegen, haben Zeichen und Bilder über vierzigtausend Jahre erhalten – Keramiktafeln überdauern 5000 Jahre; Bücher und Handschriften erleben mehrere Jahrhunderte; Filme lösen sich nach 40 bis 150 Jahren auf. So wie die meisten Artefakte aus der Vergangenheit verschwunden sind, werden unsere heutigen Medien sich auflösen – optische Speichermedien halten fünf, 100 und in professionellen Fällen 1000 Jahre; Festplatten und Flash-Speicherüberstehen bis zu zehn Jahre. In Ermangelung von mündlicher Überlieferung verschwand durch die geringe Haltbarkeit der Medien der größte Teil der Erfahrungen. Selbst wenn sie lange Zeit überstehen, müssen sie erst mal gefunden werden und lesbar sein. Erinnern wir uns an die Schriftrollen vom Toten Meer, die nach fast zweitausend Jahren entdeckt wurden.
    Zum besseren Verständnis fehlen dann noch die undokumentierten Puzzlesteine – die Erfahrungen, die nicht aufgezeichnet wurden, und das fehlende Verständnis des Entstehungskontexts.
    Handbücher liefern allgemeine Grundlagen, aber es würde deren Rahmen sprengen, wenn das Umfeld beschrieben wäre. Damit ist der Einsatz bei den sich wandelnden Aufgaben eine Transferleistung, die nur mit viel Aufwand möglich ist. Ein Beispiel ist das aufwendige BPM der Achtziger, das nicht mehr zu den jetzigen, sich schnell ändernden Tätigkeiten passt.
  • Der Kontext unterstützt – wenn auch nicht überall
    Die Erfahrungen entstehen stets in einem bestimmten Umfeld. Das Verständnis der Begleitumstände setzen die Autoren stets voraus. In der Folge vergessen sie wesentliche Erläuterungen des Zusammenhangs. Dadurch bleiben die ausgearbeiteten Eindrücke missverständlich. Betrachten wir die Herrschaft des Volkes, die Demokratie, d.h. die Beteiligung der Bevölkerung an politischen Beschlüssen. Im antiken Griechenland waren nur sogenannte Vollbürger, 10-20% der Bürger (i.e. Athener, die kämpfen konnten, allerdings keine Frauen, Sklaven oder Fremde) an Entscheidungen beteiligt. Wir verstehen unter Demokratie heute Mitbestimmung der gesamten Bevölkerung, Gleichberechtigung, Mehrheitsentscheidungen usw. – zumindest prinzipiell.
    Der Kontext setzt sich aus unterschiedlichen Reichweiten (lokal, regional, kontinental und global) zusammen. Die sich ergebende Mischung ist nur schwer greifbar – der berlinerische Charlottenburger unterscheidet sich von dem italienischen Schwabinger und gleichzeitig teilen sie miteinander die deutsche Mentalität.
    Die entsprechenden Zusammenhänge werden nicht mitgeliefert und gehen mit der Zeit verloren. Heute versuchen wir mit Kulturstudien diesen Kontext herzustellen, was sehr schwer ist, da diese Inhalte selten beschrieben sind und Zeitgenossen nicht mehr gefragt werden können. Denken wir an die Gestaltung der Abläufe nach den Prinzipien des Taylorismus: es gibt einen, besten Weg; Ort und Zeit stehen fest; fein gegliederte Aufgaben werden angestrebt; Einwegkommunikation; kleingliedrige Zielvorgaben ohne Bezug auf Unternehmensziele; Qualitätssicherung von Dritten. In der schnelllebigen Welt von VUKA lassen sich diese Ansprüche aufgrund der latenzfreien Reaktionszeit nicht mehr verwirklichen.

Fazit: Aufgrund der Beschränkungen der Sprache, den selten verfügbaren und schwer verständlichen Nachweisen sowie dem fehlenden Kontext können frühere Erfahrungen nur mit großen Anstrengungen wiederverwendet werden. Meistens werden frühere Erfahrungen genutzt, um durch den Autoritätsbias die Zielgruppe zur Zustimmung zu bewegen (i.e. die Tendenz der Aussage einer Autorität zuzustimmen, unabhängig von ihrem Inhalt, obwohl man eine andere Meinung hat). Schon Goethe proklamierte im Faust „Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen.“. Mit der Flut an Quellen, Erfahrungen und Fake News gibt es zu viele Ansätze, dass eine sachliche Wahl des „richtigen“ Ansatzes unmöglich wird. Aus diesem Grund müssen wir unsere eigenen Erfahrungen machen – uns irren, Fehler aushalten und es noch mal versuchen, bis es funktioniert.

Jenseits der Informationsblase

Hätte Sokrates den Begriff bereits gekannt, wäre einer seiner berühmten Sprüche vielleicht so ausgefallen – „Ich weiß, dass ich nichts außerhalb meiner Informationsblase weiß.“ Die Tatsache, dass wir all das, was wir nicht wissen, nicht wissen können, ist eine unangenehme Situation. Seit Gutenberg haben die Massenmedien die Verfügbarkeit von Information ins Unermessliche wachsen lassen. Heute sind wir im Internet angekommen, wo alle alle erreichen können, sofern sie gefunden werden. In dieser komplexen Welt ist es natürlich, dass die Webseiten sich mit Gleichgesinnten vernetzt sind – Kreationisten vernetzen sich mit Kreationisten; Anhänger der Evolutionstheorie verlinken mit Anhängern der Evolutionstheorie. Was machen diese Sphären aus? Wie kommt man jenseits der Informationsblase?

Die Informationsblase ist beispielsweise durch die folgenden Aspekte bestimmt.

  • Konsistenz
    Der Zusammenhalt in einer Informationsblase entsteht durch einen stimmigen Zusammenhang. Die einzelnen Bestandteile wiederholen und ergänzen sich oder bauen sogar aufeinander auf. In jedem Fall widersprechen sie sich nie. Die dafür erforderliche Logik muss dazu so einfach und eingängig wie möglich sein.
  • Sprache
    Durch die gemeinsame Sprache wird die Konsistenz sichergestellt. Die Beiträge wiederholen immer ein ähnliches Muster. Dies führt im Laufe der Zeit zu einer High Context Kultur, die von außen nur schwer verstehbar ist bzw. falsch interpretiert wird. Informationsblasen leben von ihrem technischen Jargon.
  • Dogmatik
    Informationsblasen haben die Tendenz sich gegen Eingriffe in ihre Konsistenz und ihren Jargon zu wehren. Andersartige Weltsichten werden mit allen Mitteln und so früh wie möglich im Keim erstickt und aktiv ignoriert. Wiederholungen der Inhalte durch Wiederverwendung werden belohnt. Fehlverhalten wird sofort diffamiert, meistens als Unwissenheit oder als Lüge oder als Falschmeldung.
  • Interne Verlinkung
    Eine wichtige Funktion ist der Einsatz von Querverweisen innerhalb der eigenen Informationsblase. Im Interesse der Konsistenz verbieten sich Links auf gegensätzliche oder andere Meinungen. Dadurch entsteht ein geschlossenes Denkgebäude, dem die Offenheit und der Diskurs mit anderen Themen fehlt.
  • Filter
    Das Internet suggeriert völlige Erreichbarkeit. Dabei haben die Anbieter der Netze und die sozialen Plattformen jederzeit die Möglichkeit und zwischenzeitlich sogar die Pflicht Filter einzubauen. Diese Filter verhindern die Sichtbarkeit bestimmter Webseiten. Besonders Staaten und Unternehmen, die meinen, Kontrolle ausüben zu müssen, können mit einfachen Mitteln und ohne bemerkt zu werden unliebsame Inhalte ausblenden.

Aus der Blase gibt es eigentlich kein Entrinnen, außer man verfügt über einen Blick über die Tellerränder. Dazu braucht es:

  • Neutrale Suchmaschinen
    Solange es übergreifende Suchmaschinen gibt, die in alle Informationsblasen hineinschauen können, besteht eine große Wahrscheinlichkeit, dass man über die eigene Informationsblase hinausblicken kann. Das Problem besteht darin, dass man keinerlei neutrale Möglichkeiten hat, gefilterte Inhalte zu erkennen, außer man erhält Hinweise aus anderen Medien oder durch Mundpropaganda. Man weiß nie, was man nicht weiß.
  • Allgemeine Regeln für Filter
    Im Interesse einer maximalen Offenheit sollten Regeln für ein offenes Internet definiert sein. Diese sollten technisches Blockieren, die Entfernung von Suchergebnissen, die Abschaltung von Webseiten und Selbstzensur regeln. Grundsätzlich gibt es Fälle, in denen Filter berechtigt sind – Pädophilie, Terrorismus oder Ähnliches. Leider gibt es noch keine allgemeingültige Auslegung, welche Webseiten zu filtern sind und welche nicht.
  • Gegenseitige Toleranz
    Das Gelten- und Gewährenlassen von anderen Meinungen ist ein Ansatz, der allen zur Verfügung steht, aber aus verständlichen Gründen nicht genutzt wird. Die Auseinandersetzung mit entgegengesetzten Standpunkten würde sicherstellen, dass der eigene Ansatz stabiler wird. Mit der entsprechenden Toleranz werden Diskurse erst möglich.

Fazit: Die Informationsblase ist ein natürliches Phänomen. Die gemeinsame Sprache, der Notwendigkeit von konsistenten Inhalten, die innewohnenden Überzeugungen, konsequente Querverweise und Filter schaffen einen geschlossenen Denkansatz. Mit neutralen Suchmaschinen, allgemeine Regeln für die Filter und gemeinsame Toleranz kommt man jenseits der Informationsblasen.