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Retro – die fantasielose Wiederverwendung

Kulturelle Artefakte sind mittlerweile zu wirtschaftlichen Produkten und Dienstleistungen geworden, die den Regeln des Marktes folgen – die Literatur, Musik sowie die darstellende und bildende Kunst. Kunstschaffende werden dadurch zu Designern neuer Angebote. Vielfältige Kanäle müssen kontinuierlich mit Inhalten versorgt werden – Fernseh- und Radiosender, Konzertbühnen, Theater und Museen. Ein schneller Weg die eigene Palette zu erweitern ist die fantasielose Wiederverwendung bestehender Angebote. In Ermangelung von Inhalten entstehen interessante Auswüchse. Fernsehsender leben von Wiederholungen; Kino-Blockbuster werden zu Serien und Remakes; Pop-Musik lebt von Coversongs und Coverbands; Theaterstücke werden unter gewohnten Titeln, völlig verfremdet. Fehlen den Künstlern die Ideen oder zwingt der Markt zu diesen fantasielosen Wiederverwendungen?

Bisher galt: Die Form folgt der Funktion. Die Kreativen haben sich Inhalte ausgedacht und diese dann in eine Form gebracht. Fordern die Märkte die endlose Fortsetzung der Form und füllen sie mit dem immer gleichen Inhalt? Reicht es nur noch selten für Inhalte? Die folgenden Elemente werden dabei wiederverwendet.

  • Der Plot
    Der rote Faden, der eine Geschichte durchzieht, folgt einem bestimmten Rhythmus, der sicherstellt, dass die Aufmerksamkeit des Publikums kurzfristig immer wieder aufgefrischt wird. Die dazugehörigen Handlungen folgen einem erahnbaren Ablauf, der durchsetzt wird mit Spannung – im Krimi deckt man den Täter am Ende, im Verlauf oder am Anfang der Geschichte auf; durch gezielt eingestreute Effekte, wie z.B. unbekannte Kulturen, ungewohnte Rollenbilder oder Elemente aus anderen Genres (z.B. Esoterik in einem Abenteuer). Die eigentliche Handlung ist dabei, abhängig von der Kultur, stets die gleiche – in den USA das Ermittlungsteam und in Deutschland der Kommissar mit seinem Assistenten.
    Retro versorgt Zielgruppen mit fantasielos, wiederholten Plots.
  • Das Format
    Abhängig von dem Zielmedium, z.B. Print, Rundfunk, Film oder Internet, werden die Plots unterschiedlich angeboten. Ein neuer Roman wird geplant, wie der Rollout eines Produkts – nach der Veröffentlichung wird das Buch im Radio und Fernsehen besprochen, Rezensionen in den einschlägigen Zeitschriften lanciert und schließlich meistbietend für die Weiterverwertung verkauft. Was zählt, ist die Signalwirkung des ursprünglichen Titels. Gute Beispiele für diese Vermarktung sind Das Parfüm von Patrick Süskind oder Der kleine Prinz von Antoine St. Exupéry, die bereits ihre Runden in unterschiedlichen Formaten hinter sich haben. Die eigentliche Geschichte ändert sich nicht – nur das Format.
    Retro versorgt die Zielgruppe häufig mit fantasielos, wiederholten Formaten.
  • Das Thema
    Der Zeitgeist rückt unterschiedliche Sujets, die im Erfolgsfall von vielen wiederholt werden, in den Vordergrund – die Psyche zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts, der Totalitarismus nach dem Zweiten Weltkrieg oder die DDR nach der deutschen Wiedervereinigung. Wissenschaftliche Erkenntnisse der Psychologie locken heute in Fernsehserien, wie Lie to me oder Leverage, die Zuschauer mit Erkenntnissen bezüglich der nonverbalen Kommunikation. Der Reiz besteht dabei aus neuen Erkenntnissen, die man im Alltag nutzen könnte.
    Retro versorgt die Zielgruppe häufig mit fantasielos, wiederholten Themen.
  • Die Protagonisten
    Die vorgestellten Akteure sind die tragenden Säulen eines Werkes – z.B. in der bildenden Kunst religiöse Charaktere; in der Musik die Mythologie; in den Geschichten zeitgemäße Personen. Honoré de Balzac mit seiner menschlichen Komödie zeigte die französische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Jules Verne hatte seine mutigen Forscher, die die Grenzen der Welt sprengten. Gabriel Garcia Marquez verpackte die südamerikanische Wirklichkeit in Magie. Heinrich Böll lieferte ein Bild der BRD während des Wirtschaftsaufschwungs. Die heutigen Protagonisten sind immer wieder gleich: der verrückte Wissenschaftler; der vergeistigte Kommissar; die punkige Ermittlerin. Nur selten entstehen neue Persönlichkeiten, wie in dem Buch Der Vorleser von Bernhard Schlink.
    Retro versorgt die Zielgruppe häufig mit fantasielos, wiederholten Protagonisten.
  • Die Songs
    Mit der Verbreitung der Schallplatte wurde das Zwanzigste Jahrhundert zum Zeitalter der popularisierten Musik. Während in der Vergangenheit Musik Musiker notwendig machte, kann durch die Konserve der Schallplatte und dem heutigen Internet Musik vervielfältigt und zu jeder Tages- und Nachtzeit genossen werden. Daneben erfordern die unzähligen Radiosendungen und Filme einen kontinuierlichen Fluss von neuen Kompositionen. Dabei werden bestimmte Stile wiederverwendet. Das Schicksal der neuen Musiker ist es, so zu klingen wie Led Zeppelin oder Adele. Und gleichzeitig werden alte Stücke als Cover neu inszeniert, im besten Fall neuartig interpretiert. Es besteht die Möglichkeit, dass die Musik an ihren Grenzen angekommen ist und neue Harmonien nicht mehr ohne Wiederholung bestehender Melodien möglich sind.
    Retro versorgt die Zielgruppe häufig mit fantasielos, wiederholten Kompositionen.
  • Die Gestaltung
    Die gestaltete Verpackung ist in der Wirtschaft ein wichtiges Element der Vermarktung. Die Kunden lassen sich auf ein Angebot ein, wenn die Verpackung sie anspricht – die darstellende Kunst nutzt hierzu eine besondere Bühne; die bildende Kunst den spektakulären Ausstellungsraum; Musik und Bücher den Bucheinband. Teil der Gestaltung ist der anziehende Titel, der den ersten Kaufimpuls auslöst – Das Geheimnis; Was jeder wissen muss; Passives Einkommen für Jedermann. Das Werbeposter, der Klappentext und der Trailer sind weitere Bestandteile der Verpackung, die mit ihrem Stil bestimmte Gütekriterien suggerieren und manchmal mehr versprechen, als sie halten können. Der eigentliche Inhalt tritt in den Hintergrund – die Gestaltung bestimmt das Geschäft.
    Retro versorgt die Zielgruppe häufig mit fantasielos, wiederholter Gestaltung.

Fazit: Die zahllosen Remakes im Kino und TV, die endlosen Wiederholungen von Quizformaten, die neuen Coverbands und die Übernahme von klassischen Themen in Computerspielen ermöglichen die industrielle Ausschöpfung kultureller Marken. Die fantasielose Wiederverwendung alter Plots, Formate, Themen, Protagonisten, Musikstücken und Gestaltungsformen fluten rückwärtsgewandt die Verkaufsflächen. Der Ansatz Altes in neue Schläuche zu packen und zu verkaufen, verlagert die Kreativität vom Inhalt auf die Form und verhindert dadurch Neues. Deshalb steht Retro für fantasielose Wiederverwendung.

Retro – the fanciless reuse

Cultural artifacts have now become economic products and services that follow the rules of the market – literature, music as well as the performing and visual arts. Artists thus become designers of new offers. A wide variety of channels have to be continuously supplied with content – television and radio stations, concert stages, theatres and museums. A quick way to expand your own palette is the fanciless reuse of existing offers. In the absence of subject matters, interesting outgrowths occur. Television stations live from reruns; cinema blockbusters become serials and remakes; pop music lives from cover songs and cover bands; theater plays are completely alienated under well-known titles. Do the artists lack ideas or is the market forcing them to reuse work without imagination?

Previously, the rule was: form follows function. Creatives came up with content and put it into a form. Do the markets demand the endless continuation of the form and fill it always with the same content? Are there rarely enough contents? The following elements are reused thereby.

  • The plot
    The red thread that runs through a story follows a certain rhythm that ensures that the attention of the audience is continuously refreshed once in a short while. The associated actions follow a conceivable sequence that is interspersed with suspense – in a thriller, the perpetrator is uncovered at the end, during the course or at the beginning of the story; through deliberately interspersed effects such as unknown cultures, unusual role models or elements from other genres (e.g. esotericism in an adventure). Depending on the culture the actual action is always the same – in the USA the investigation team and in Germany the commissioner with his assistant.
    Retro provides target groups fanciless repeated plots.
  • The format
    Depending on the target media, e,g, print, radio, film or Internet, the plots are differently offered. A new novel is planned like the rollout of a product – after publication, the book is discussed on the radio and the television, and reviews are launched in the relevant magazines and eventually sold to the highest bidder for further exploitation. What counts is the signal effect of the original title. Good examples of this kind of marketing are Perfume by Patrick Süskind or The Little Prince by Antoine St. Exupéry, which have already completed their rounds in various formats. The actual story doesn’t change – just the format.
    Retro often provides the target group fanciless repeated formats.
  • The theme
    The Zeitgeist brings different subjects to the fore, which, if successful, will be repeated by many – the psyche at the beginning of the twentieth century, totalitarianism after the Second World War or the GDR after German reunification. Today, scientific findings in psychology are used in television series such as Lie to me or Leverage to attract viewers with insights into non-verbal communication. The attraction lies in new insights that could be used in everyday life.
    Retro often provides the target group fanciless repeated topics.
  • The protagonists
    The introduced actors are the supporting pillars of a work – e.g. religious characters in the visual arts; mythology in music; contemporary people in stories. Honoré de Balzac with his human comedy showed the French society of the 19th century. Jules Verne had his courageous researchers who broke the boundaries of the world. Gabriel Garcia Marquez wrapped the South American reality in magic. Heinrich Boell provided a picture of the FRG during the economic upswing. Today’s protagonists are the same again and again: the crazy scientist; the spiritualized commissioner; the punk investigator. Seldom new personalities emerge, as in the book The reader by Bernhard Schlink.
    Retro often provides the target group fanciless repeated protagonists.
  • The Songs
    With the spread of records, the twentieth century became the age of popularized music. Whereas in the past music required musicians, music can be reproduced and enjoyed at any time of the day or night through the canning of records and today’s Internet. In addition, the countless radio broadcasts and films require a continuous flow of new compositions. Certain styles are reused. The fate of the new musicians is to sound like Led Zeppelin or Adele. And at the same time old pieces are re-staged as covers, at best interpreted in a new way. It is possible that music has reached its limits and new harmonies are no longer possible without repeating existing melodies.
    Retro often provides the target group fanciless repeated compositions.
  • The design
    Designed packaging is in the economy an important element of marketing. The customers accept an offer, if the packaging appeals to them – the performing arts use for this purpose a special stage; the visual arts the spectacular exhibition space; music and books the book cover. Part of the design is the attractive title that triggers the first buying impulse – The secret; What everyone needs to know; Passive income for everybody. The advertising poster, the flap text and the trailer are further components of the packaging that suggest certain quality criteria with their design and sometimes promise more than they can keep. The actual content takes a back seat – the design determines the business.
    Retro often provides the target group fanciless repeated designs.

Bottom line: The countless remakes in cinema and TV, the endless repetitions of quiz formats, the new cover bands and the adoption of classical themes in computer games enable the industrial exploitation of cultural brands. The fanciless reuse of old plots, formats, themes, protagonists, pieces of music and designs flood the sales areas with a look backwards. The approach of packing old things into new vessels and selling them shifts creativity from content to form and prevents that way that new things appear. Therefore retro stands for fanciless reuse.