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Das Uhrwerk – die ideale Metapher für technische Ordnung

Descartes und die Aufklärung haben die Welt in möglichst kleine Teile zerlegt, um sie genau zu untersuchen und zu verstehen, wie sie tickt. Diese Weltsicht gilt noch immer. Und bis heute vertrauen viele nur auf das, was sie wiederholbar beweisen können. Entsprechend unterteilen Unternehmen die Arbeit in beherrschbare Einheiten. Diese Bereiche, Teams und Stellen bekommen die Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung für einen kleinen Teil der Wertschöpfung zugewiesen. Alle Teile ergeben zusammen das ganze Unternehmen – für manche wie Uhrwerke. Fehlt das kleinste Teil, so tickt die Uhr nicht mehr. Das macht das Uhrwerk zu einer idealen Metapher für technische Ordnung.

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Menschgemachter Aufbau basiert auf Regeln, Logik und Berechnungen. Die folgenden Punkte verdeutlichen dieses Denken.

  • Struktur
    Die Architektur einer Uhr bestimmt der Uhrmacher. Auf mehreren Ebenen sind durch die verschieden großen Zahnräder die Anzeigen der jeweiligen Stunden, Minuten, Sekunden, des Datums oder der Mondphasen eingebaut. Der Uhrmacher erkennt beim Blick auf das Uhrwerk, wie es funktioniert und in welcher Reihenfolge er es auseinandernehmen und zusammensetzen kann.
    Entsprechend besteht im Geschäftsleben die Firma aus verschiedenen Bereichen. Je größer die Anzahl der Bereiche, desto mehr Ebenen, Gruppierungen und Fachgebiete gibt es. Aufgrund der überschaubaren Anzahl von Teilen ist das schwierigste Uhrwerk am Ende leichter in Gang zu setzen als ein Unternehmen.
  • Format
    Der Zustand der Zahnräder, der Schrauben und des Materials bestimmt die Güte der Uhr. Jedes Teil erfüllt einen Zweck. In einer Firma gibt es ebenfalls greifbare Bausteine – z.B. die Gebäude, die Leitungen und die Maschinen. Einzelne sehen selbst die Mitarbeiter als greifbare Ressourcen. Um die weichen Aspekte der Menschen besser fassen zu können, werden sie mit Formularen beschrieben, die den Austausch von Informationen regeln und die gemeinsame Sprache festlegen. Diese Richtlinien entwickeln sich mit der Zeit zu dem dichten Dschungel der Bürokratie. Die Vorschriften werden ohne Unterlass erstellt, beschrieben, veröffentlicht und die Umsetzung sichergestellt. Dem Uhrwerk fehlen diese weichen Faktoren. Dies macht das Uhrwerk zur idealen Beschreibung für einen makellosen, von der Führung gesteuerten Betrieb.
  • Führung
    Ein kleines Schwungrad, die Unruh, ist entscheidend für den gleichmäßigen Gang einer Uhr. Entsprechend braucht es im Betrieb Personen, die diese Rolle übernehmen. In einer technischen Ordnung laufen die Vorgaben klar von oben nach unten, von außen nach innen. Nichts geschieht, ohne die übergeordnete, überübergeordnete Zustimmung der Vorgesetzten. Dies schafft zwar zuverlässige und flüssige Abläufe, aber es bremst die Beweglichkeit der Mitarbeiter. Sie müssen stets vorab die Erlaubnis einholen. Wie die Unruh einer Uhr das gleichmäßige Laufen sichert, so kümmert sich die Führung darum, dass auch unter Zeitdruck die Abläufe im Betrieb zuverlässig laufen.
  • Kennzahlen
    Gut eingestellte Uhren liefern akkurat die genaue Zeit. Weitere Kennzahlen sind das Kaliber, die Energiequelle oder die Anzahl von Schwingungen pro Sekunde. Auch die technische Ordnung nutzt messbare Kennzahlen. Die Aktivitäten haben klare Messpunkte, sofern diese fassbar sind. Damit lassen sich Entscheidungen begründen, die Leistungen der Mitarbeiter beurteilen und unterschiedliche Szenarien simulieren. Mit zunehmender Digitalisierung steigt auch die Anzahl der Messpunkte. Die neuen Möglichkeiten durch Big Data sind im Moment noch in der Lage in der Informationsflut Muster zu erkennen. Am Ende ist jedoch nicht die Menge, sondern die Zuverlässigkeit ausschlaggebend.
  • Zusammenarbeit
    Das Uhrwerk lebt von dem makellosen Zusammenspiel seiner Teile. Sobald Sand ins Getriebe kommt, bleibt die Uhr stehen. Die geschäftliche Zusammenarbeit in der technischen Ordnung ist geregelt. Desto weiter die Einheiten voneinander entfernt sind, desto seltener sind die direkten Kontakte. Im Gegensatz zur Uhr, wo das Zusammenwirken innerhalb stattfindet, lebt das Geschäft von informellen Beziehungen der Mitarbeiter, die sich eher außerhalb, im privaten Umfeld, ergeben. Erschwert wird die Zusammenarbeit vor allem durch das Bestehen einer bereichsspezifischen, separatistischen Geheimsprache, die von anderen falsch oder gar nicht verstanden werden kann. Für Fans der technischen Ordnung repräsentiert die Uhr den Idealzustand des Zusammenwirkens.
  • Wissen
    Das Wissen eines Uhrwerks besteht aus seinem Design, der mechanischen Finesse seiner Teile sowie natürlich der Uhrzeit. Im Unternehmen verteilt sich das Wissen auf alle Ebenen und Bereiche. Die übergeordneten Stufen haben einen eingeschränkt übergreifenden Blick, während die untergeordneten Ebenen eingeschränkt operatives Detailwissen haben. Der starre Aufbau beschränkt damit das verfügbare Wissen auf das, was bei der Gestaltung eingebaut wurde – lernen ist für diese Denke Sand im Getriebe.

Fazit: Das Uhrwerk ist die ideale Metapher für eine technische Ordnung, wie sie seit Jahrhunderten die Wirtschaft prägt. Der Preis für diese greifbare Gliederung eines Unternehmens sind große Mengen an Ebenen, eine überbordende Bürokratisierung, eine streng hierarchische Führung, leicht erreichbare Messpunkte, eine fest vorgegebene Zusammenarbeit und die unzureichende Nutzung von Wissen und Lernen.

Dokumentiertes Unwissen

Ein großes Problem der Informationsgesellschaft ist die Tatsache, dass die Einzelnen

  • sich nicht bewusst sind, was sie alles wissen und
  • nicht greifen können, was sie nicht wissen.

Schon in der Antike hat Sokrates, der Wissende seiner Zeit, diesen Zustand mit dem Ausspruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ auf den Punkt gebracht. Unsere informationshungrige Gesellschaft wird durch das Dilemma angetrieben, viel zu erfahren und sich unentwegt informieren zu müssen. Dieser Drang nach Wissen führt zu permanenter Reizüberflutung, die nichts weiter schafft als dokumentiertes Unwissen.

DokumentiertesUnwissen

Unser Gehirn ist keine Festplatte, die alle 18 Monate ihren Speicherplatz und die Zugriffsgeschwindigkeit auf die gespeicherten Daten verdoppelt. Im Gegenteil. Eine chinesische Studie hat herausgefunden, dass unser Gehirn in den vergangenen 10.000 Jahren von 1500 cm3 auf 1350 cm3 geschrumpft ist. Und unsere Alltagserfahrung zeigt, dass wir anders funktionieren als ein digitaler Datenspeicher. Wir scheinen nie voll zu sein, darum

  • abonnieren wir mehr Zeitungen, Magazine, Online-Angebote, als wir verarbeiten können. Entweder stapeln sich die Papierberge im Zimmer oder im Müll;
  • kaufen wir Bücher, die immer dicker und immer seltener gelesen werden und über Jahre in den Regalen auf ihren ‚Verbrauch‘ warten;
  • verschicken und empfangen wir Unmengen von E-Mails, die unseren Briefkasten überlaufen lassen. Gleichzeitig wünschen wir uns auf immer mehr Verteiler, damit wir ja nichts verpassen;
  • konsumieren die Deutschen im Schnitt fast 4 Stunden Fernsehen am Tag – und erinnern sich am nächsten Tag bestenfalls an die Sendung, aber nicht an deren Inhalt;
  • verliert man sich beim Surfen im Internet.

Das dokumentierte Nicht-Wissen sind all die Informationen, die wir virtuell oder physisch vorhalten, um ja nichts zu verpassen. Wer nicht über einen zu großen Haufen an dokumentiertem Nicht-Wissen, in Form von ungelesenen Artikeln, Büchern, ungesehenen Filmen verfügt, der werfe den ersten Stein.

Das Defizit, das uns den Zugang zu bereits Bekanntem und zu Unbekanntem versperrt, führt nicht zu einem sparsamen Einsatz der Ressourcen. Wir machen nichts aus dem, was wir bereits wissen und drehen den Informationshahn immer weiter auf, um das, was wir meinen nicht zu wissen, aufzunehmen. Am Ende verspüren wir keinen Fortschritt.

Der Weg aus dieser Sackgasse beginnt mit der Veränderung der Überzeugungen, die uns antreiben.

  • Die eigene Leistungsfähigkeit akzeptieren
    Sobald wir verstehen, dass unsere Verarbeitungskapazität so gut oder so schlecht ist, wie bei allen anderen, können wir die vorhandenen Ressourcen besser nutzen.
  • Von allem wissen wir fast nichts
    Es gibt keine Personen, die weniger Nicht-Wissen haben, als man selbst. Dieses Nicht-Wissen zu akzeptieren, keine Angst zu haben Fragen zu stellen und Neugierde zur eigenen Tugend zu machen, baut den Druck ab.
  • Verhindern, dass Neues schnell verpufft
    Passive Aufnahme von Neuigkeiten führt zu schnellem Vergessen. Schneller, aktiver Einsatz der neuen Kenntnisse in Diskussionen beziehungsweise die schriftliche Zusammenfassung von neuen Erkenntnissen, führt dazu, dass man es sich besser merken kann.
  • Die Sinne für sich nutzen
    Am besten werden Informationen behalten, wenn sie uns einerseits über mehrere Sinneskanäle erreicht und andererseits unser bevorzugter Sinneskanal versorgt wird. Ist allen bewusst, über welchen Sinneskanal sie man am besten lernen – visuell, auditorisch, kinästhetisch?

Fazit: Das Fatale ist das fehlende Bewusstsein des bestehenden Wissens und die Unsichtbarkeit der Unkenntnis. Durch Anstrengungen kann dieses Manko nicht überwunden werden, sondern indem man sich von dokumentiertem Wissen löst und Bestehendes häufiger aktiv einsetzt, Dies funktioniert, wenn wir unsere Einstellungen wie oben beschrieben ändern, damit das Bedürfnis nach immer mehr dokumentiertem Unwissen sich auflöst.